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Ulrich Greiner

Gespräch mit Wolf Biermann

Das folgende Gespräch fand im September 2006 in Wolf Biermanns Haus in Hamburg statt. Die Backsteinvilla liegt nur gut hundert Meter von der Elbe entfernt.


Greiner: Vor 30 Jahren wurden Sie aus der DDR ausgebürgert. Damals wusste man noch nicht, dass dies der Anfang vom Ende der DDR war.

Wolf Biermann: Und ich wusste es noch weniger als jeder Dummkopf in Deutschland. Ich wusste, weil ich so klug bin, dass die DDR länger hält als ich. Und bin heilfroh, dass ich mich da geirrt habe.

Was ging in Ihnen vor?

Ich lief nach der Ausbürgerung rum wie ein Gehenkter. Das erste Buch, das ich im Westen herausgab, trug den Titel Nachlass 1.

War das ironisch?

Das war pathetisches Selbstmitleid. Es sollte dem jungen Leser, der Sie damals waren, mitteilen: Ich, Wolf Biermann, bin als Dichter gestorben.

Die Ausbürgerung war ein Schlag.

Ja, aber ein paar Jahre später dämmerte mir, dass ich mal wieder das größte Glück hatte. Endlich war ich aus diesem DDR-Pisspott rausgekommen, mit 40 Jahren. Ich sagte mir: Das schadet dir doch nicht, wenn du endlich mal merkst, dass du nicht nur ein Ostdeutscher bist und nicht nur ein Deutscher, sondern ein Teilchen der Gattung Mensch! Komm ins Offene, Freund, sagt Hölderlin.

Wie lange haben Sie für diese Einsicht gebraucht?

Drei, vier Jahre. Meine Jahreszahlen sind Gedichte. Es ist ein winziges Gedicht, an dem ich das in meinem privaten Geschichtsbuch festmachen kann. Es heißt Bei Flut und spielt ungefähr hundert Meter von hier, wo wir sitzen.

Bei Flut
drückt die See
den Fluß in das Land
in Altona saß ich am Elbestrand
und sah, wie die Boje nach Osten hin zeigt
das Wasser läuft auf und steigt
Verdrehte Welt!
das seh ich gerne
der Fluß, er fließt
zurück!
Die Wassermassen
der Elbe wollen
wieder nach Dresden
zurück
Das sah ich gern aber gelassen
und bleibe

Wenn das auflaufende Wasser den Elbstrom ins Land drückt, fließt der Fluss zurück. Dieses philosophische Naturschauspiel zeigt uns, dass Heraklit eben doch nicht Recht hat, wenn er sagt, man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Man kann dreimal in denselben Fluss steigen: wenn er vorbeikommt, wenn er zurückkehrt und wenn er wieder an derselben Stelle vorbeifließt. Das Fazit: Ich bleibe, je demeure, wie es in Apollinaires Gedicht über die Seine heißt. Ich bleibe, ihr könnt mich am Arsch lecken, ihr im Politbüro, ob ihr mich wieder reinlasst oder nicht.

Als sie die Elbe sahen, hatten Sie da das Gefühl, in ein früheres Leben zurückzukehren?

Nein, es ging für mich damals nur um die kindliche Frage: Willst du wieder nach Hause? Und diese Frage habe ich unmittelbar nach der Ausbürgerung falsch beantwortet.

Sie haben sich damit Feinde gemacht.

Ja, ja! Ich sang damals: »Ich bin gekommen vom Regen in die Jauche«. Das war im Schmerz gekräht, im Schmerz darüber, dass ich meine vertrauten Freunde verloren hatte, aber auch, was mich nun zittern ließ: meine vertrauten Feinde. Sie sind ja auch Heimat: die richtigen Feinde. So kam ich in ein anderes Koordinatensystem, in den Westen, und verschaffte mir allerhand falsche Feinde. Und so falsche Feinde sind womöglich noch gefährlicher als falsche Freunde. Diese falschen Feinde im Westen sagten: Nun guck dir diesen Vogel an, endlich ist er in der Freiheit, endlich kann er öffentlich singen, und jetzt beschwert er sich.

Hatten sie Recht?

Absolut. Das ist die Komik der Dialektik. Aber wenn es einem, wie Heine sagt, just passieret, dann bricht das Herz entzwei. In Wirklichkeit wächst der Mensch: In der Nähe der Katastrophe liegen auch die größten Chancen.

Warum sind Sie mit 16 Jahren in die DDR gegangen, warum haben Sie so lange an ihr festgehalten?

Weil ich so geprägt worden bin. Ich komme aus einer »katholischen« Familie, und das Wort katholisch heißt bei mir kommunistisch. Ich glaubte an den lieben Gott, und das war bei mir Karl Marx. Mein Vater war als Märtyrer auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und der Scheiterhaufen hieß bei mir Auschwitz. Und meine Mutter Emma hatte ihren Privatkrieg mit Herrn Hitler. Nachdem ihr geliebter Mann und Genosse abgeschlachtet war, als Kommunist und als Jude, nachdem die ganze jüdische Familie in die Grube geschossen war, hatte sie den Ehrgeiz, ein Kind heranzuziehen, das seinen Vater, wie sie es kindlich nannte, rächen sollte. Was das konkret heißen sollte, wusste sie selber nicht.

Ihre Mutter fand es völlig richtig, dass Sie in die DDR gingen?

Natürlich. Sollte ich vom Klassenfeind lernen, dass zwei mal zwei vier ist? Kein Wort habe ich denen geglaubt. So wurde ich erzogen. Ich war radikal der schlechteste Schüler in der Heinrich-Hertz-Oberschule am Hamburger Stadtpark. Jedes Jahr der Blaue Brief. Und wenn ich ne Fünf in Mathe hatte, sagte meine Mutter: Dafür ist dein Vater in Auschwitz gestorben, dass du nicht mal rechnen kannst! Womit ich dunkel andeuten will, dass ich viel besser weiß als Martin Walser, was eine Auschwitz-Keule ist. Damit hat sie mich getroffen.

Haben Sie Ihren Vater in Erinnerung?

Ich habe ihn ganz genau in Erinnerung. Ich war drei Monate alt, als er abgeholt wurde und seinen Ehering auf den Küchentisch legte. Meine Mutter hat den Ring mit ihrem eigenen zusammenfügen und einen Rubin in Dreiecksform darüber setzen lassen, das Zeichen der politischen Häftlinge. Den Ring trägt heute meine Frau Pamela.

Wie kann sich ein drei Monate altes Baby an den Vater erinnern?

Mein Vater saß sechs Jahre in Bremen-Oslepshausen, den Knast gibt es heute noch. Dreimal im Jahr durfte meine Mutter ihn eine halbe Stunde besuchen. Im Winter 41 fand sie niemanden, der auf mich aufpasste, ich war etwa fünf Jahre alt, und da nahm sie mich in ihrer Not mit. Mein Vater war aber damals nicht im normalen Gefängnis, wo sie mich im Warteraum hätte hinsetzen können, sondern in einem Barackenlager, um Torf zu stechen. Mein Mutter schaffte es, den Posten zu bezirzen, mich mit reinzulassen. Da war ein geschlossenes Fenster, durch das mindestens zwanzig Männerköpfe rausstarrten, die sich drängelten, um eine richtige Frau, ein richtiges Kind zu sehen. Dann saßen wir in einer Baracke, in einem Büroraum. Meine Mutter nahm mich auf den Schoß, vor uns war ein Tisch, auf der anderen Seite ein Stuhl. Der Wachposten brachte meinen Vater in Häftlingsklamotten herein. Der setzte sich auf den Stuhl und reichte mir ein Tüte Bonbons.

Woher hatte er die?

Das hat mir meine Mutter viel später verraten, sie hatte einen der Beamten dort gebeten, meinem Vater die Tüte zuzustecken, damit er sie mir schenken konnte.

War es das erste Mal, dass Sie ihn leibhaftig gesehen haben?

Ja, aber jeden Morgen wachte ich mit meinem Vater auf, auf eine Weise, die sich kein Romancier ausdenken kann, aber eine Arbeiterfrau. Diese Emma Biermann, die konnte das. Wenn ich morgens um sechs aufstand, meine Mutter musste um sieben in der Dependorf Reinigungsanstalt sein, lief ich aus meinem Zimmerchen, das über dem Kanal hing, unter mir fuhren die Schuten und die Schlepper, das war im Industrieviertel Hammerbrook, ins Treppenhaus. Dort stand mein Leiterwägelchen, und da lag jeden Morgen von meinem Vater ein Leckerli, ein Bonbon, ein Keks, ein Stück Zucker. Dann zog ich den Wagen mit dem Geschenk meines Vaters rein, und meine Mutter erzählte mir beim Frühstück, auf welch abenteuerliche Weise dieser Keks aus Bremen durch die Lüneburger Heide und über die Elbe zu mir gekommen war. Dann hab ich den Keks meines Vaters gegessen, im Grunde genau so wie die Katholiken den Leib Jesu mit der Oblate. So war mir mein Vater inniger vertraut als anderen Kindern ihre flottierenden Väter.

Sie haben ihn damals in der Moorbaracke zum letzten Mal gesehen?

Ja. Und jetzt gab er mir gleich eine ganze Tüte. Ich nahm einen Bonbon raus und steckte ihn hinter mir in den Mund meiner Mutter. Ein zweiten gab ich meinem Vater. Dann nahm ich einen dritten und reichte ihn dem Wachmann, der am Fenster links stand. Und dann zog ich meine Hand wieder zurück. Mein Vater lachte und sagte: Kannst ihm ruhig einen geben. Da hab ich meine Hand wieder zu dem fremden Mann ausgestreckt, dann aber schnell zurückgezogen und mir den Bonbon in den eigenen Mund gesteckt.

Was passierte dann?

Meine Mutter erzählte meinem Vater, dass ich den Spottnamen »der kleine Sänger« hatte. Wenn sie zur Arbeit ging, musste ich alleine warten, bis die Tante Lotte mich aus der Wohnung holte. In diesen anderthalb Stunden habe ich immer gesungen, ganz laut, wie halt so Kinder im dunklen Wald. Und nun sagte meine Mutter: Wölflein, sing doch deinem Papa mal was vor. Schon damals musste man mich eher darum bitten, nicht zu singen. Und so legte ich ungeniert und mit voller Stimme los: »Hörst du die Motoren brummen, ran an den Feind! Bomben, Bomben, Bomben auf Engeland Bum! Bum!!« Da sang ich meinem armen Vater das Lied seiner Todfeinde, wie ich es aus der Goebbels-Schnauze, so nannte man den Volksempfänger, gelernt hatte.

Haben Sie das alles so genau in Erinnerung?

Es gehört zu jenen Familiengeschichten, die immer von neuem erzählt und so, wie bei einem Computer, gesichert wurden.

Ihr Vater war Jude, Ihre Mutter aber nicht.

Deshalb galt ich bei den Nazis als Mischling ersten Grades. Das Groteske besteht darin, dass ich nach dem jüdischen Gesetz überhaupt kein Jude bin, weil meine Mutter eine Gojete war.

Warum ist das jüdische Thema für Sie immer wichtiger geworden?

Jude war ich nie und war ich immer. Schon 1965, da wurde ich gerade frisch verboten, schrieb ich in der Ostberliner Chausseestraße die Verse: »Ich singe für meinen Genossen Dagobert Biermann / Der ein Rauch ward aus den Schornsteinen / Der von Auschwitz stinkend auferstand / In die viel wechselnden Himmel dieser Erde / Und dessen Asche ewig verstreut ist / Über alle Meere und unter alle Völker / Und der jeglichen Tag neu gemordet wird / Und der jeglichen Tag neu aufersteht im Kampf / Und der auferstanden ist mit seinen Genossen / In meinem rauchigen Gesang / Und ich singe all meine Verwirrung / Und alle Bitternis zwischen den Schlachten / Und ich verschweige dir nicht mein Schweigen / ach, in wortreichen Nächten, wie oft verschwieg ich / Meine jüdische Angst«. Dieser Gesang für meine Genossen kursierte in heimlichen Abschriften in der DDR und erschien 1972 bei Wagenbach in West-Berlin. Der Historiker des jüdischen Widerstands Lustiger hat mich dazu gebracht, den Großen Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk, das Poem von Jizchak Katzenelson, zu übersetzen. Zufälle! Ich kannte ja nicht mal des Dichters Namen, habe dann zwei Jahre damit verbracht, dieses Opus magnum der Schoah vom Jiddischen ins Deutsche zu übersetzen. Aber was heißt schon Zufall. Wir wissen ja von Hegel, dass es zwischen Zufall und Notwendigkeit eine dialektische Beziehung gibt: Der Zufall ist die Form, in der sich das Notwendige durchsetzt.

Was war in Ihrem Fall das Notwendige?

Es war eine Not, die ich wenden musste, weil jeder Affe zu irgendeiner Affenhorde gehören möchte. Das steckt in uns drin, weil unsere Gene wissen: Als Einzelexemplare sind wir verloren. Wenn man durch allerlei Turbulenzen aus einer bestimmten Gruppe vertrieben wurde, dann sucht man vielleicht gar nicht, aber es sucht in einem nach einer neuen, dann denkt es in einem nach: Wo gehörst du eigentlich hin?

Die Heimat des Dichters, sagt man, ist die Sprache.

Jeder Piesel, der sich für nen Literaten hält, sagt: Meine Heimat ist die Sprache. Das stimmt immer und sagt gar nichts. Als ich mit der Sprache von Luther und Brecht in den Westen geriet, kam ich in ein Land, wo Deutsch geredet wurde, und ich verstand kein Wort.

Aber wie kamen Sie dann auf das Jüdische?

Es waren mehrere Zufälle. Ich hatte mich immer für den Spanischen Bürgerkrieg interessiert, weil mein Vater, statt sich als Jude nach Amerika zu retten, gegen die Nazis kämpfte, indem er Schiffe im Hamburger Hafen sabotierte, die der Legion Condor Nachschub liefern sollten. Er wurde verpfiffen und starb hier an der Hamburger Front des Spanischen Bürgerkriegs. Und so kam ich auf das Buch von einem Arno Lustiger Die Juden im Spanischen Bürgerkrieg. Ich freundete mich mit ihm an, der in dem KZ überlebt hatte, in dem mein Vater umgebracht worden war, in Auschwitz.

Hat Ihre Rückkehr zum Jüdischen auch mit dem jüdischen Glauben zu tun?

Ich bin verdorben für jede Art von Religion. Mein Glaube ist noch viel absurder als der jüdische oder christliche: Ich glaube an den Menschen, und das lässt sich noch schlechter begründen. Ich unterscheide mich von den Christen eigentlich nur in einem Punkt: Die sagen, Gott hat den Menschen erschaffen, und ich sage, der Mensch hat Gott erschaffen. In meinem neuen Buch liefere ich dazu ein paar Gedichte. Wir haben in das Bild Gottes unsere besten Eigenschaften und größten Hoffnungen hineinprojiziert. Ich würde niemals versuchen, einem gläubigen Menschen seinen Glauben wegzunehmen. Erzogen wurde ich zur Intoleranz, meine Mutter war Atheistin, das war ihr pathetisches Bildungserlebnis in den zwanziger Jahren, und darauf war sie stolz. In der DDR aber waren die Christen verfolgt, und die Wahrscheinlichkeit, dass ein Christ ein tapferer, anständiger Mensch war, war dort größer als im Westen. Dort erlebte ich im gemeinsamen Kampf gegen den Stalinismus, dass Christen meine Verbündeten wurden.

Gibt es ein Leben nach dem Tod?

Nein, daran glaube ich überhaupt nicht. Mir würde es reichen, wenn es ein Leben vor dem Tode gibt.

In Ihrem Lied vom Hugenottenfriedhof heißt es: Wie nahe sind uns manche Tote, doch wie tot sind uns manche, die leben.

Kunststück. Ich will Ihnen sagen, warum ich als kleiner asthmatischer Junge, als Drachentöter mit der Gitarre so erfolgreich war. Ich hatte ein Holzschwert mit sechs Saiten drauf. Ich fühlte mich oft verzagt und war in Gefahr, dass nicht ich Furcht hatte, sondern dass die Furcht mich hatte. Einfacher gesagt: dass ich zu Kreuze krieche, im Streit mit diesen totalitären Lumpen. Und da kamen immer die Toten, nicht nur mein Vater, auch meine Großmutter, mein Großvater, meine Tante Rosi Biermann, mein Cousin Peter. Die alle habe ich noch gesehen, als sie hier auf der Moorweide abtransportiert wurden. In Minsk hat man sie erschossen. Also: Wenn ich anfing zu wackeln, kamen immer diese Toten, und mein Vater sagte mir: Los, kleiner Wolf! Ich hab mein Leben aufs Spiel gesetzt und verloren. Da wirst du doch wohl dein Wohlleben aufs Spiel setzen können, der Preis ist zum Glück nicht mehr so hoch.

Ist das so?

Na ja, wenn man jetzt sieht, was mit Ihrer Kollegin in Moskau gemacht wurde (Biermann bezieht sich hier auf die Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja am 7. Oktober 2006 in Moskau). Und wenn ich mich daran erinnere, dass die Stasi mehrere Mordanschläge auf mich verübt hat.

Was passierte?

In der Hermann-Matern-Straße, die jetzt wieder Luisenstraße heißt, haben die versucht, mich totzufahren. Um einen Zentimeter ist es ihnen misslungen. Danach kam ich mit schlotternden Knien zu meinem starken, klugen Freund Robert Havemann. Ich erzählte ihm alles, und was war der knappe Kommentar des Naturwissenschaftlers? Tja, Wolf, zwei Punkte. Erstens, du darfst das keinem erzählen, die haben alle schon Angst genug. Und zweitens: Musst eben besser aufpassen. Ohne solche kaltherzlichen Freunde wäre ich kaputt gegangen. Ich hatte also immer die Toten im Rücken und solche lebendigen Kumpel.

In Ihrem neuen Gedichtband heißt es: »So paarmal noch mich um die Sonne drehn / Und dann ist gut. Ich hab genug gesehn.«

Ich hab von Anfang an genug gesehn. Das ist Ihnen doch nicht neu, das finden Sie in der Literatur an jeder Straßenecke, dass die Sehnsucht nach dem Tod nur die spiegelverkehrte Sehnsucht nach einem lebendigeren Leben ist. Man möchte sich immer, grobianisch gesagt, verpissen. Den sichersten Weg, dass einem nichts mehr passieren kann, hat Walter Benjamin gewählt. Die Verführung, sich endgültig in Sicherheit zu bringen, ist immer da.

Aber alle fürchten sich vor dem Tod.

Da kann ich nicht mitreden. Sie müssen bedenken, dass meine Lebensuhr stehen geblieben ist, als ich sechseinhalb Jahre alt war. Da ist meine Mutter mit mir auf dem Rücken durch den Kanal geschwommen, um uns herum das brennende Hamburg. Es ist ein Wunder, dass ich aus diesem Feuersturm herausgekommen bin. Was heißt Wunder, meine Mutter Emma war das Wunder. Als ich viel später das berühmte Foto der Uhr aus Hiroshima mit den geschmolzenen Zeigern sah, da dachte ich: Das kenne ich. Die Uhr in meiner Brust ist stehen geblieben in dieser Nacht. Deshalb bin ich auch immer sechseinhalb Jahre geblieben.

Doch wohl nicht nur.

Ich stelle mir das bildlich so vor, dass ich zwei Augen habe: ein Kinderauge, mit dem ich naiv auf die Welt schaue, aber auch ein blindes Greisenauge, mit dem ich die Dinge durchschauen kann.

Aber Sie lieben den derben, vitalen Ton.

Ich komme nun mal aus einer Arbeiterfamilie, allerdings einer gebildeten. Meine Mutter las in die Mittagspause Heines Buch der Lieder, in rotes Leder gebunden, ein Geschenk meines Vaters. Ich habe den proletarischen Ton mit der Muttermilch gesoffen, da muss ich mich überhaupt nicht verstellen. Aber das ging einem andern auch so: Gottes Dolmetsch Martin Luther kommt von unten, der war ein Proletenkind. Sie kennen seinen berühmten Satz: Man soll dem Volk aufs Maul schauen. Er selbst hat diesen Rat gar nicht gebraucht, er war selber Volk. Das war ein Wort für die Eierköppe. Deswegen war er es, der die Bibel übersetzt hat und nicht Melanchthon oder Erasmus. Die konnten besser Griechisch und besser Hebräisch, aber er hat die deutsche Sprache geschaffen, die es damals noch gar nicht gab. Und deswegen lese ich nichts so intensiv wie die Bibel. Wer in deutscher Sprache schreiben will, muss die Bibel besser kennen als jeder Pfaffe.

Sie lesen die Bibel, ohne an Gott zu glauben?

Ich glaube an Gottes Kolleginnen aus der griechischen Vorzeit: die Musen. Ich fragte mich oft: Wie kommt es, dass es ausgerechnet mir gelingt, dass ich Gedichte schreiben kann, die viel schöner, viel tiefer, viel besser sind als ich selbst. Es gelingt, weil mir die Musen manchmal zustecken, was mir noch fehlt. Ich habe übrigens was Neues rausgekriegt! Wo kriegen eigentlich die Musen all das her, was sie ihren Lieblingen schenken. Im neuen Gedicht Liebling Brecht, eine poetische Ökonomie habe ich genau das verraten: Die Musen klauen es diesen und jenen hoch gebildeten Literaten, den lebenserfahrenen Hobbypoeten, auch den kunsterfahrenen Laien. Wenn diese klugen Stümper versuchen, ein Gedicht zu schreiben, dann terrorisiert sie der Zwang zur strengen Form dermaßen, dass sie in der Regel einen Schwachsinn zusammenreimen, der tief unter ihrem eigentlichen Niveau ist.

Ein Beispiel?

Ein berühmtes? Karl Kraus! Kraus hat einen genialen Verriss von Stefan Georges Übersetzung der Shakespeare-Sonette geschrieben. Er giftete dort zum Beispiel: George und Shakespeare haben eines ganz und gar gemein, sie können beide nicht Deutsch. Er erklärt aber auch sehr scharfsinnig, wie eine gute Übersetzung sein muss. Goldene Worte bis heute. Und die Pointe: Er ließ sich hinreißen, es selbst zu machen, und hat es tatsächlich geschafft, die Nachdichtung noch viel schlechter zu machen als dieser grauenhafte George. Ja, dass ers nicht konnte, verblüfft mich gar nicht. Die Musen haben eben auch ihm alles geklaut, was sie etwa dem Brecht zusteckten. Ich frage mich allerdings: Wie kommt es, dass so ein scharfsinniger, brillant gebildeter Kenner wie Karl Kraus das nicht selber merkt? Da kriege ich das Zittern, weil ich natürlich die Furcht habe, dass mir das ähnlich passiert.

Aber die Musen stecken Ihnen das doch nicht einfach zu, Sie müssen daran arbeiten.

Gewiss, von dem Gedicht Heimat gibt es mindestens 50 Fassungen. Aber auch wenn ich am Computer 100 Fassungen schreibe, dann kann das immer noch zusammengebastelter Schrott sein. Und mit edler Einfalt ist da gar nichts gemacht. Ich bin ja nicht der Prophet, dem Gott seine Texte einbläst, und der Schreiber versteht kein Wort. Viel Arbeit ja. Aber ohne die Musen gelingt nichts.

Was kommt bei Ihnen zuerst, der Text oder die Melodie?

Wenn ich Verse schreibe, dann baue ich zuerst nur das Gedicht und habe nicht den Hauch eines Schimmers von der Musik. Erst wenn der Text fertig ist, frage ich ihn wie ein Fremder: Möchten Sie eine Musik haben? Und dann lautet die Antwort mal: Besten Dank, ich hab genug Musik in mir selbst! Oder aber: Unbedingt, Herr Komponist! Und einigen Gedichten ist es egal, sie kommen mit oder ohne durch die Welt. Nehmen Sie eins von kurz vor der Ausbürgerung: »Ich möchte am liebsten weg sein und bleibe am liebsten hier.« Meine tiefere, ursprüngliche Begabung ist wohl die Musik. Aber leider habe ich keine Musikhochschule absolviert.

Sie hätten das nachholen können.

Brechts genialer Leibkomponist Hanns Eisler ist bis heute mein Meister geblieben, weil er die direkte Linie über Schönberg zu Brahms, Schubert und Schumann bedeutet. Dieser mit allen Musikwassern gewaschene Mann merkte sofort, als ich ihm meine allerersten Lieder vortrug, dass ich auf dem Gebiet der Musik noch allerhand lernen muss. Er hatte aber die Sorge, dass ich aus dem Paradies rausfliege, wenn ich vom Musik-Apfel der akademischen Erkenntnis esse. Eisler war aber aus politischen Gründen hingerissen. Er betrachtete es als Sieg gegen den Westen, dass in der DDR ein solcher proletarischer Orpheus wuchs. Das konnte kein Zufall sein, das war für ihn eine Art dialektischer Gottesbeweis dafür, dass die DDR die Zukunft Deutschlands ist. Er genoss das wie einen marxistischen Orgasmus. Es war der Lustgewinn eines bürgerlichen Intellektuellen, der sich auf eine radikal romantische Liebe zur Arbeiterklasse und zur kommunistischen Partei versteift hatte, immer in der Angst, im blutigen Bett nicht zu genügen. Eine flagellantische liaison dangereuse. Und so beschloss er, dass ich nicht Musik studieren durfte, weil er Angst hatte, dass ich zu denen gehöre, die ihre ursprüngliche plebejische Naivität auf dem argen Weg der Erkenntnis verlieren. Wer vom Apfel der Erkenntnis isst, wird aus dem Paradies der Unschuld vertrieben, und die meisten, wie Eisler wusste, kommen nie wieder rein. Davor wollte er mich bewahren, weil er in mir ein kostbares Beispiel für die Überlegenheit des Proletariats sah.

Nun werden sie 70 Jahre alt. Ist das ein Problem für Sie?

Ich merke es überhaupt nicht, vielleicht bin ich schon tot. Es ist für mich nicht mal ein Problem, dass es für mich kein Problem ist.

Das ist doch gut.

Ich komme gar nicht dazu, darüber nachzudenken. Meine Tochter Mollie ist fünf Jahre alt, steht morgens um sieben unerbittlich an meinem Bett und will mit mir spielen. Meine Familie will was von mir, ebenso meine Kinder, die mir genauso viel geben wie ich ihnen.

Man könnte sagen, Vaterschaft sei eines Ihrer Talente.

Meinen Kindern verdanke ich etliche Gedichte. Schlagen Sie mal im neuen Buch den Kinder-Katechismus auf. Der Text wäre zu lang, sogar für Ihr dickes großes Wochenblatt. Aber das Gedicht Pin Parasol könnten Sie abdrucken, damit Ihre Leser neugierig gemacht werden auf paar frische Früchte vom alten Baum Biermann:

Vom Hausberg runter auf Banyuls sur mer strahlt weiß
Im gelben Glast der Sonne die Chapelle la Salette
Ein starker Pinienbaum, genannt Pin Parasol
beugt sich zu ihr herab als dunkle Silhouette

Ich schätz mal: Fünfundvierzig Grad: Schon ganz schön schräg
Neigt Gottes grüner Sonnenschirm sich sturmzerzaust
Mit gradem Nadeldach auf schiefgewachsnem Stamm
Zum Kirchlein, wo nicht mal ein armer Teufel haust

La Tramontane heißt der Nordwind, der hier herrscht
Die Pyrénéen will er gen Süden runterdrücken
Nach Spanien seit Äonen rennt er wütend an
An diesem Baum da oben hat er sein Entzücken

Den hat er tief gebeugt. Das seh ich gern und denke
Der Stamm – ok! – gebeugt, jedoch gebrochen? Nein!
Mensch, sonnenklar, was mir am Parasol gefällt:
So bin ich! Und will lieber sagen: will so sein.

Erschienen in der ZEIT

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