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Ulrich Greiner

Gespräch mit Peter Handke – November 2019

Mit dem Zug braucht man vom Gare Montparnasse bis Chaville Rive Gauche etwa 20 Minuten. Dann läuft man eine Viertelstunde die schmale Rue de NN entlang bis zu Peter Handkes Haus. Das hohe mit einem Sichtschutz verkleidete Gartentor ist halb geöffnet, so dass ich über die kleine Wiese zum Haus gehen kann. Handke öffnet die Tür und hat ein Telefon am Ohr. Er legt den Finger auf die Lippen und winkt mich stumm herein. Das geräumige Wohnzimmer mit Fenstern an allen Seiten bietet mehrere Sitz- und Leseplätze, alle versorgt mit Bücherstapeln und geschmückt mit Fundstücken von draußen, mit Zweigen, Vogelfedern, getrockneten Blumen. Das Telefonat ist jetzt beendet, Handke begrüßt mich richtig und macht einen Kaffee. Wir nehmen Platz an seinem Arbeitstisch.

DIE ZEIT: Wurden Sie vom Nobelpreis überrascht? Oder hat man Ihnen vorher ein Signal zukommen lassen?

Peter Handke: Nein, kein Signal. Ob ich überrascht war? Ich wusste, dass die Bekanntgabe bevorstand, aber natürlich habe ich gedacht: Mir können die den Preis nicht geben. Und ich habe gedacht, hoffentlich geben sie ihn nicht jemandem, bei dem ich mich gedemütigt fühle. Ich war gerade beim Schuheputzen, da läutete das Telefon und ein freundlicher Mann mit einer schönen Stimme meldete sich. Anders Olsson heißt er. Ich sah die Nummer und dachte zuerst, die wäre aus den Niederlanden, weil ich von dort einen Anruf erwartete. Aber es war Stockholm, und da wurde mir etwas mulmig zumute.

ZEIT: Haben Sie sich gefreut?

Handke: Es war etwas anderes. Es war ein großer Friede in mir. War. Aber ich spüre ihn manchmal immer noch. Er kommt immer wieder zurück. Nein, es war nicht Freude. Es war mehr als ich, es war etwas Objektives.

ZEIT: Weshalb hätten Sie sich gedemütigt fühlen können, wenn jemand, von dem Sie noch nie gehört haben, den Preis bekommen hätte?

Handke: Bestimmt nicht, aber ich hatte befürchtet, sie geben den Preis an jemanden, den ich ein Arschloch finde.

ZEIT: Jetzt frage ich nicht, wer das sein könnte.

Handke: So weit habe ich gar nicht gedacht. Mit Botho Strauß zum Beispiel wäre ich einverstanden gewesen.

ZEIT: Wem von den vergangenen Preisträgern fühlen Sie sich nahe?

Handke: Patrick Modiano. Ich habe zwei Bücher von ihm übersetzt. Und von dem letzten Preisträger Ishiguro habe ich den Roman Was vom Tage übrig blieb gelesen, ein sehr schönes Buch. In meinem Jahr in der Niemandsbucht kommt er namentlich vor.

ZEIT: Ihr Bücher begleiten mich schon fast mein ganzes Leben. Es begann mit der Angst des Tormanns beim Elfmeter, vor allem mit der Stunde der wahren Empfindung. Ich finde nicht alle Ihre Bücher gut, darüber haben wir uns ja einmal gestritten, als ich den Bildverlust verrissen habe.

Handke: Leider haben wir nie gestritten.

ZEIT: Doch, Sie haben gesagt, ich hätte einen großen Unsinn darüber geschrieben.

Handke: Es war Stuss. Sie haben das Buch gar nicht gelesen.

ZEIT: Ich habe es gelesen, aber nicht verstanden.

Handke: Das gibt es. Mir ging es früher mit dem Witiko von Stifter so. Dann habe ich ihn vor zwei, drei Jahren noch einmal gelesen. Ich war hypnotisiert. Ein großartiges, gewaltiges Buch. Es klingt wie das Alte Testament, freilich ohne Gott.

ZEIT: Friedrich Hebbel hat Stifters Nachsommer verrissen.

Handke: Er hat demjenigen die Krone Polens versprochen, der das Buch bis ans Ende gelesen habe. Zu der Zeit hat Polen gar nicht existiert. Hebbel war ein großer Autor, aber er konnte biestig sein.

ZEIT: Mit seinem Witiko wollte Stifter den Hebbel eines Besseren belehren.

Handke: Das glaube ich nicht. Man schreibt so ein Buch nicht, um jemanden etwas zu beweisen. Vielleicht wollte er noch fantastischer monoton sein als sonst. Was Stifter gemacht hat, hat keiner vor ihm und keiner nach ihm gemacht. In keiner Bibel gibt es so schöne Geschichten. Vielleicht im Buch Ruth, aber die sind kurz. Man möchte schon gerne längere Geschichten.

ZEIT: Daran lässt es Stifter ja nicht fehlen. Was bedeutet Ihnen die Bibel?

Handke: Das Alte Testament ist in mir, doch möchte ich es nicht noch einmal lesen. Aber das Neue Testament lese ich immer wieder, auch die Briefe von Paulus. Sein Griechisch war nicht besonders gut. Die langen, verschlungenen Sätze kommen manchmal nicht ans Ziel. Ich lese ihn mit Hilfe eines alten Wörterbuchs. Immer wieder habe ich Lust, etwas zu buchstabieren, zu entziffern. Immer noch bin ich ein bedürftiger Leser. Nicht unbedingt von Romanen, Familiengeschichten oder solchen Buchpreissachen. Sondern von Faulkner zum Beispiel. Licht im August habe ich jetzt wieder gelesen. Er schreibt ein sehr schwieriges amerikanisches Englisch. Auch wenn ich nicht alles verstehe, begreife ich doch die ganze tragische Kavalkade des Menschtums.

ZEIT: Wenn Sie sagen, so wie Stifter habe noch niemand geschrieben, dann trifft das auch für Sie zu.

Handke: Das will ich ja von Ihnen hören!

ZEIT: Wenn Sie die Strecke Ihres Schreibens überblicken, von den Hornissen, Ihrem ersten Buch von 1966, bis etwa zur Morawischen Nacht, dann ist das eine gewaltige Strecke.

Handke: Ja, schon.

ZEIT: Für Ihr Werk wurden Sie immer wieder gefeiert, für Ihre öffentlichen Äußerungen weniger.

Handke: Wenn ich rede, dann eben so, wie ich halt rede. Nicht dass ich entgleise, aber ich setze die Akzente anders als beim Schreiben. Da spüre ich, wo ich den Akzent setzen muss. Beim Reden lasse ich mich manchmal gehen. Das muss nichts Schlechtes sein. Beim Gespräch kommt es immer darauf an, wer einem gegenüber sitzt, ob der ein Gespür hat, wie der Rhythmus sein muss, ein Gespür dafür, was man auswählt oder weglässt. Manchmal merke ich bei einem Gesprächspartner: Der hat kein Wort von mir gelesen. Sie hingegen sind, so Gott will, ein Leser, nicht nur ein Kritiker.

ZEIT: Wenn ich nach meinem Beruf gefragt werde, so sage ich „Journalist“. Manchmal sind Sie sehr böse auf uns Journalisten.

Handke: So kann man das nicht sagen. Obwohl ich manchmal spüre, dass mich der Journalismus auf die Palme bringt oder auf den Haselnussstrauch. Man darf den Journalismus nicht generell verachten. Er hat eine andere Sprache. Die literarische Sprache ist die natürliche, sie ist die Sprache des Menschen, des Gefühls, der Vernunft, sie ist die ursprünglichste, nachhaltigste Sprache. Die Sprache des Journalismus ist ein künstliche, beigebrachte, schulische. In der heutigen Literatur spürt man oft das Geschulte, als ob man das Schreiben in einer Schule lernen könnte. Das ist nicht möglich. Jeder ist der Lehrer und der Schüler seiner selbst. Und manchmal haut der Lehrer dem Schüler auf den Kopf, manchmal streichelt er ihn, so geht das hin und her. Literatur ist nichts Künstliches, sie ist die Mitte der Welt. Stattdessen tut man so, als wäre der Schriftsteller nicht ganz hell im Kopf, weil er Schriftsteller ist. Als müsste man ihm deshalb manches nachsehen.

ZEIT: Wenn die Sprache der Literatur die ursprüngliche ist, folgt dann daraus, dass der Schriftsteller für alles zuständig ist?

Handke: Wenn man einen Blick und ein Gefühl für den Zusammenhang hat, dann ist man auch zuständig. Ich bin nicht zuständig für Atomphysik oder Medizin.

ZEIT. Und Politik?

Handke: Es kommt darauf an. Wo das Herz dabei ist, ist das Interesse sofort da, aber nicht als ein gemachtes. Das journalistische Interesse ist ein angereistes und natürlich auch ein Machtinteresse. Wie bringe ich die Dinge an den Mann? Wie verkaufe ich das? Es muss ja verkauft werden. Die Artikel fangen schon so an, die ersten Sätze sollen etwas aufreißen. Früher habe ich den New Yorker sehr gern gelesen. Als der Krieg in Jugoslawien losbrach, fing ein Artikel des Sohns von Susan Sontag ungefähr so an: „Harry N. wurde ethnisch gereinigt, als er mit Freunden beim Kartenspiel saß.“ Ich habe gedacht: Schämt der sich nicht? Um Kafka zu variieren: Die Scham hat nicht überlebt. Da kann ich zittern vor Wut. Die Sprache des New Yorkers hat sich durch den Krieg verändert.

ZEIT: Es gibt die Sprache des Journalismus und die der Literatur. Ein Problem entsteht, wenn der Journalismus Literatur werden will.

Handke: Journalistische Literatur ist ein Bastard der schlimmsten Art.

ZEIT: Sie haben sich früher nie in politische Dinge eingemischt. Und dann haben Sie sich in ein Gelände, in eine Gesellschaft begeben, wo Sie nicht zu Hause sind.

Handke: Kein Wort, von dem, was ich über Jugoslawien geschrieben habe, ist denunzierbar, kein einziges. Das ist Literatur. Natürlich bin ich allein gewesen, es gab noch Harold Pinter und wenige andere. Ich bin Jugoslawe von meiner Mutter her und vom Bruder meiner Mutter, der in Maribor studiert hatte. Der Großvater hat bei der Volksabstimmung in Kärnten für den Anschluss an Jugoslawien votiert. Jugoslawien hat für mich etwas bedeutet. Und wenn man mir jetzt mit Serbien kommt, ist man unredlich. Ich bin wegen Jugoslawien hin.

ZEIT: Sie hätten Ihr Buch nicht „Gerechtigkeit für Serbien“ nennen sollen, sondern „Gerechtigkeit für Jugoslawien“.

Handke: Ich fand das als Untertitel für die Winterliche Reise richtig. Denn die Berichterstattung über Serbien war monoton, einseitig. Mein fast heiliger Freund Siegfried Unseld hat einmal gesagt: „Der Peter Handke hat eine sehr einseitige Position bezogen.“ Da habe ich ihm gesagt: „Siegfried, Du hast gemeint, ich habe eine sehr einsame Position bezogen.“ Ein Journalist von der NZZ hat mir damals geschrieben, was in meinem Buch stehe, sei plausibel und erlaubt, aber ich müsse auch die andere Seite zur Kenntnis geben, im Sinne von audiatur et altera pars. Aber vordem war ausschließlich dieser andere Teil berichtet und kommentiert worden. Ich stand in einer Art Front, die sich gebildet hatte. Aber ich bin kein Frontmensch, und wenn, dann wäre ich eine Einmannfront, und etwas Lächerlicheres gibt es nicht. Meine Stirn ist keine Front. Nein, es ging um Gerechtigkeit für Serbien. Wie konnte Deutschland Kroatien, Slowenien und Bosnien-Herzegowina anerkennen, wenn auf dem Gebiet mehr als ein Drittel orthodoxe und muslimische Serben lebten? So entstand ein Bruderkrieg, und es gibt keine schlimmeren Kriege als Bruderkriege. Mitterrand hat Jugoslawien zugunsten der deutsch-französischen Freundschaft preisgegeben. Wie viele Serben haben in Kroatien, in der Krajina gelebt! Und die sollten plötzlich im eigenen Land ein minderwertiges Volk sein? Das musste Krieg geben. Warum sagt man nicht endlich, dass der Westen daran schuld ist, warum hat man nicht sofort und energisch eine Friedenskonferenz einberufen? Die alten Feindschaften, die im Ersten und dann im Zweiten Weltkrieg von den ausländischen Mächten benutzt wurden, sind durch die Anerkennung wieder aufgebrochen. Eine grausige Geschichte. Sie können mir nicht vorwerfen, dass ich mich in die Politik einmische, wenn mir diese Zusammenhänge aufgehen – wenn auch nicht als Morgenröte, eher als Morgengrauen.

ZEIT: Sie sprechen in Ihren Serbien-Büchern immer wieder von der Vorgeschichte des Kriegs. Was meinen Sie damit?

Handke: Die „Longue Durée“, von der Fernand Braudel gesprochen hat, die uralten Prägungen, die ewige Unterdrückungsgeschichte und Zerrissenheit.

ZEIT: Warum vergeht sie nicht?

Handke: Wenn die Wirtschaft nicht funktioniert, wenn Armut und Mangel herrschen, dann bricht die Vorgeschichte auf.

ZEIT: In seinem jüngsten Roman Der begrabene Riese erzählt Ishiguro die märchenhafte Geschichte einer Riesin, deren Atem das England des siebten Jahrhunderts in einen Nebel taucht. Er macht die Menschen vergesslich, so dass sie sich an das erlittene Unrecht nicht mehr erinnern. Die Riesin wird getötet, und der Krieg bricht aus. Was wäre, wenn man vergessen könnte?

Handke: Vergessen soll man nicht. Ich muss an die beiden Brüder meiner Mutter denken, die für das Nazireich in Russland gekämpft haben und dort krepiert sind. Das kann ich nicht vergessen und will es erzählen, aber nicht um einer Vergeltung willen. Es kommt ja in vielen meiner Bücher vor, unmittelbar oder am Rande. Nein, nicht vergessen!

ZEIT: Aber was dann?

Handke: Erzählen, teilnehmende, liebende Geschichten, ohne Vorwurf, ohne Rachegedanken.

ZEIT: Als ich jetzt diese Kontroverse über Ihre Ansichten zum Thema Serbien noch einmal nachgelesen habe, dachte ich, vielleicht hat Handke auch eine gewisse Schuld daran.

Handke: Wenn Sie das noch einmal sagen, hole ich einen Hammer! Spielen Sie jetzt Tribunal?

ZEIT: Wenn jemand auf einsamer Position steht und vereinsamt ist, spricht das noch nicht dafür, dass er recht hat.

Handke: Wie kommen Sie darauf, dass ich vereinsamt bin? Ich bin weit davon entfernt, mit den Menschen zu prunken, die mit mir sind, die fühlen und denken wie ich. Schuld? Nein. Natürlich bin ich verantwortlich. Und diese Verantwortung trage ich sehr gern. Sehr gern ist übertrieben, ich bin kein Masochist. Wenn irgendwelche Sätze aus dem Sommerlichen Nachtrag falsch und sinnwidrig zitiert werden, dann ist das ein kleines Verbrechen. Warum lässt man das durchgehen? Thomas Assheuer hat in der ZEIT über mich ein sehr beachtliches Stück geschrieben. Aber dann sagt er, ich hätte mich vor Slobodan Miloševic verbeugt. Wie kann man so etwas schreiben? Ich habe mich keinen Augenblick verbeugt, weder innerlich noch äußerlich. Oder ich hätte, wie Iris Radisch schrieb, Sympathien für Miloševic geäußert. Nie! Ich habe ihn ein einziges Mal gesehen, da war er Gefangener in Den Haag.

ZEIT: Aber Sie sind hingegangen.

Handke: Natürlich!

ZEIT: Warum?

Handke: Ich wollte ihn anhören. Der Anwalt des ehemaligen Präsidenten Miloševi? hat mich gefragt, ob ich mit ihm reden wolle. Ich habe mir angehört, was er zu sagen hatte. Aber wenn man mit ehemals Mächtigen spricht, dann benutzen sie manchmal den Schriftsteller als Geschichtsschreiber. Das ist mir so ergangen, als ich Bruno Kreisky traf. Ich hatte das Gefühl, er benutzt mich für die Nachwelt. Dieses Gefühl hatte ich auch bei Miloševic. Ich wollte ihn ablenken, aber er kam immer wieder auf dasselbe Thema zurück und wollte mir erklären, was damals bei der Schlacht auf dem Amselfeld geschehen ist und was er dann mit seiner Rede beabsichtigt hat.

ZEIT: Und Sie waren auf der Beerdigung von Miloševic.

Handke: Natürlich war ich da. Er hat bei einer der letzten Abstimmungen dafür votiert, Jugoslawien nicht aufzulösen. Sein Begräbnis war auch das Begräbnis von Jugoslawien. Hat man vergessen, dass dieser Staat gegen das Hitler-Reich gegründet worden ist?

ZEIT: Manche haben Sie mit dem Argument verteidigt, ein Schriftsteller müsse nicht ethisch einwandfrei sein, und dafür berühmte Beispiele angeführt.

Handke: Damit bin ich nicht einverstanden. Ein Schriftsteller sollte ein guter Mensch sein. Das gelingt nicht immer, leider. Es gehört aber auch dazu, dass man böse sein kann. Böse nicht im biblischen Sinn, sondern im Sinn von wütend, zornig. Was mir zuwider ist, sind die schlechten Menschen, die sich als gute aufführen. Diese süßliche Freundlichkeit! Die öffentliche Welt ist voll von dieser Schlechtigkeit. Es ist mir manchmal zugestoßen, dass ich mich schlecht verhalten habe, in privaten Dingen. Das kann ich mir nicht verzeihen.

ZEIT: Jetzt leben Sie schon lange hier in Chaville.

Handke: Fast dreißig Jahre.

ZEIT: Ist das Ihre Heimat?

Handke: Nein!

ZEIT: Sie sagen das so entschieden. Haben Sie keine Heimat? Könnten Sie sich eine vorstellen?

Handke: Nein, nicht mehr. Früher fühlte ich mich zum Karst in Slowenien hingezogen. Dort fand ich eine Zuflucht, die zugleich ein weites Land war. Doch jetzt gibt es Heimat nirgendwo mehr.

ZEIT: Weil sie zu alt sind?

Handke: Ich weiß es nicht. Erklären Sie es mir. Als Goethe seine Enkelkinder betrachtete, sagte er: Ach ja. Das ist seit einiger Zeit mein Lieblingsausruf: Ach ja. Es ist eigentlich ein Seufzer. Es könnte auch ein Psalm sein. Aber ich sitze gerne mit den Leuten hier zusammen. Früher gab es vier Bars in Chaville. Jetzt ist nur noch eine da.

ZEIT: Bald fahren Sie nach Stockholm. Sie wissen, dass Sie einen Frack anziehen müssen.

Handke: Ja, man kann ihn mieten. Jemand hat mir erzählt, dass Heinrich Böll erst keinen Frack anziehen wollte und am Ende einen tragen musste, der viel zu groß für ihn war.

ZEIT: Ich war dabei, als Toni Morrison den Preis erhielt. Das Schwierigste ist es, den Frack anzuziehen. Ich wäre fast daran gescheitert.

Handke: Mussten auch Sie einen Frack tragen?

ZEIT: Alle müssen einen Frack tragen, bis zum letzten Mann.

Handke: Das wusste ich nicht. Das wird wie bei den Pinguinen in der Antarktis sein, die sich dann ins Meer stürzen. – Jetzt gehen wir was essen. Mögen Sie kurdisch?

Ganz in der Nähe des hübschen alten Bahnhofs von Chaville-Vélizy befindet sich das Restaurant, geführt von einem Kurden aus Syrien, der nach einer abenteuerlichen Flucht hier gelandet ist. Handke ist mit ihm befreundet, und deshalb kriegen wir noch ein Lammgericht, obwohl die Mittagszeit schon lange vorüber ist. Wir trinken eine Flasche Rosé, eine leichten, frischen Wein aus Anatolien. Ein kurdischer Wein, ein türkischer? Ich frage Handke, ob er das Internet kenne und benutze. Nein, sagt er, seine Frau Sophie habe ihm ein Smartphone aufgenötigt, aber er sei damit nicht zurecht gekommen. Jetzt benutze er wieder sein altes Handy. Anschließend bringt er mich hinüber zum Bahnhof, löst für mich eine Fahrkarte und geht mit nach oben. Ich müsse an der Station St.Michel-Notre Dame in die Linie B umsteigen. Schon kommt der Zug. Während er abfährt, steht Handke am Bahnsteig und winkt mir nach.


Erschienen in der ZEIT vom 21. November 2019



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