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Ulrich Greiner

Die sieben Todsünden des Hans Henny Jahnn
Zum 100. Geburtstag am 17. Dezember 1994

Der Fall Hans Henny Jahnn harrt der Entscheidung. Wenn die literarische Nachwelt die Schiedsrichterin über den Rang eines Werks ist, dann hat sie ihr Urteil noch gar nicht gefällt. Denn der Bannkreis aus Unkenntnis und Mißachtung, der Jahnns Werk umgibt, ist noch immer nicht durchbrochen. Während andere Autoren dieses Ranges längst dem geistigen Erbe zugeschlagen sind und zum Lern- und Lesestoff zählen, ist der 1959 gestorbene Hans Henny Jahnn ein Außenseiter geblieben, von einigen verehrt, von einigen angefeindet, von den meisten aber nicht gekannt.

Das zu ändern wäre der 100. Geburtstag des Schriftstellers und Orgelbauers am 17. Dezember Anlaß genug. Die Zumutung jedoch, die sein Werk bedeutet, und die Widerstände, die es provoziert, sind auch durch den zeitlichen Abstand kaum geringer geworden. Sicherlich: Das Vorurteil gegen Homosexualität ist nicht mehr so stark (oder es traut sich weniger hervor); Jahnns Kampf gegen atomare Aufrüstung und Kalten Krieg sichert ihm einen Ehrenplatz in der politischen Publizistik der fünfziger Jahre; seine Kritik der Tierversuche könnte ihm sogar die Zuneigung von Zeitgenossen eintragen, die ihn noch gar nicht kennen; seine Verdienste als Orgelbauer sind jüngst wieder durch die Renovierung der Orgel in der Hamburger Heinrich-Hertz-Schule hörbar gemacht worden.

All das bedeutet nicht viel. Das literarische Werk, vor allem die beiden großen Romane Perrudja und Fluß ohne Ufer, stellt sich selbst dem geneigten Leser in einer Weise quer, die Robert Musil einmal beschrieben hat. Nur ganz schlechte Romane, so bemerkte er 1926, könne er rasch und bis ans Ende lesen. "Wenn ein Buch aber wirklich eine Dichtung ist, kommt man selten über die Hälfte; mit der Länge des Gelesenen wächst in steigenden Potenzen ein bis heute unaufgeklärter Widerstand. Es ist nicht anders, als ob die Pforte, durch die ein Buch eintreten soll, sich krampfhaft gereizt fühlte und eng verschlie-ßen würde." Man glaube sich, sagt Musil, einer Operation unterworfen: "Man fühlt, jetzt wird ein Nürnberger Trichter an den Kopf gesetzt, und ein fremdes Individuum versucht, seine Herzens- und Gedankenweisheit einem einzuflößen; eigentlich kein Wunder, daß man sich diesem Zustand entzieht, sobald man nur kann!"

Die Operation erscheint natürlich um so unangenehmer, je fremder uns die Herzens- und Gedankenweisheit ist, und eine fremdere als die von Hans Henny Jahnn findet man selten. "Man hat mich nicht soweit verstanden, um mich mißzuverstehen", schrieb er 1947. Hochmütig war er zuweilen. Er hat, daß man ihn verstehe, nicht allzuviel unternommen, außer eben zu schreiben, was ihn im Innersten aufwühlte, und das war der "Schöpfungsfehler", die Grausamkeit der Natur. Er sah die Menschheit auf dem Weg zur Natur- und Selbstzerstörung, und er predigte die Achtung vor der Kreatur. Zugleich aber begriff er, daß ein Zurück zur Natur kein Heil bringt, denn ihr Gesetz ist das Fressen und Gefressenwerden. Er glaubte, daß kein Gott sei, aber er forderte von Gott, also von den Menschen, jedenfalls vom Dichter, nichts weniger als die Ausnahme, die Aufhebung dieses Gesetzes. Aufgabe der Kunst sei es, so forderte er, das unermeßliche Leid zu mindern.

Man sieht: eine Rebellion ohne Ende, eine Rebellion gegen den "bitteren Geschmack dieser unbekömmlichen Erkenntnis". Den bitteren Geschmack spürt jeder, der ihn liest. Vielleicht ist dies der Grund des Abstoßungseffekts, den Jahnn unablässig produziert. Er ist zugleich die Bedingung seiner unbestreitbaren Größe.

Der Rebell Jahnn hat im Verlauf seines 65 Jahre währenden Lebens alle Fehler begangen, politisch wie literarisch, die einer, wenn er erfolgreich sein will, nur begehen kann. Er selber sprach einmal von seiner "hanebüchenen Unbeholfenheit". Man kann ihn nur lieben, wenn man diese Unbeholfenheiten und Fehler als den Preis in Rechnung stellt, den die unbekömmliche Erkenntnis fordert. Der einzige Weg, die epochale Leistung dieses Werks zu begreifen, läuft wahrscheinlich darauf hinaus, seine Schwächen und Zumutungen bloßzulegen. Der Mangel der Jahnn-Rezeption liegt darin, daß der Kern seiner Verehrer den Blick von der Kehrseite abwehrt und eine defensive Hagiographie betreibt. Aber Jahnns Verstöße gegen die Regeln des Geschmacks und der Grammatik sind inhärent logisch. Jahnns Todsünden sind sein Königsweg.

1. Reduktion des Menschen

Jahnn versteht die simple Wahrheit, daß der Mensch Teil der Natur sei, wörtlich und radikal. Der Mensch ist nicht über das Tier erhaben. Beiden gleich ist die Empfindung des Schmerzes, und das Leben ist ein universaler und permanenter Schmerz, mit dem Unterschied freilich, daß die Tiere den Schmerz ohnmächtig erdulden, während der Mensch planvoll und umsichtig Schmerz zufügt: sich selber und seinesgleichen, den Tieren und der gesamten Natur. Schlachthof und Krieg sind die beiden Seiten eines unbegreiflichen Willens zur Lebensvernichtung.

Im ersten Kapitel der Niederschrift geht der Komponist Gustav Anias Horn in den Stall, bettet sein Haupt an den Hals der Stute Ilok und weint. Perrudja, in der Einsamkeit seiner norwegischen Burg, liebt ein Pferd: "Perrudja kroch heran, biß lose in das samtene Fell, barg seinen Kopf zwischen den Schenkeln und träumte, träumte sich alle Stürze der Welt."

Weil das Tier nicht unter, sondern neben dem Menschen steht, als ein rätselhaft Anderes, ist jene Tierliebe, die gemeinhin Sodomie heißt, weder obszön noch lächerlich, sondern allenfalls auf bestürzende Weise vergeblich. In dem Drama Medea berichtet Jasons Sohn von seiner ersten Begegnung mit Kreons Tochter. Er reitet auf einer Stute, sie auf einem Hengst. Die Reiterin holt ihn ein. Ehe er sich's versieht, besteigt der Hengst die Stute und bringt den Reiter in die drangvollste Lage. Was in dieser riskanten Szene an Männerängsten und Menschenphantasien drinsteckt, ist sonnenklar. Jahnns Werk ist, obwohl es Schlaumeier dazu verlockt, kein Fall für die Psychoanalyse, weil es auf fast unschuldige Weise offenkundig ist und allen Triebregungen folgt. Jahnn reduziert den Menschen auf das biologische Material, weil das Kreatürliche die Basis ist und der geistige Überbau eine Übersteigerung, die den Ruin der Schöpfung bedeutet. Jahnns Werk ist ein Protest gegen das anthropozentrische Weltbild.

2. Verweigerung der Moral

Der Leichtmatrose Alfred Tutein ermordet Ellena, die Verlobte Gustavs. Er stößt ihr das Knie in den Mund und erdrosselt sie. Den Leichnam versteckt er in den Laderäumen der "Lais". Aus Furcht, der Verwesungsgeruch könnte zur Aufdeckung des Verbrechens führen, übergießt er die Tote mit Holzteer. "Über das Antlitz Teer. Über die Brüste Teer. In den unordentlich bekleideten, aufgedunsenen Schoß Teer. Er behing die Wehrlose mit den groben Fetzen, zog ihr einen weiten Mehlsack über den Oberkörper. Und entleerte den Rest der Kanne über das hingestauchte Bündel aus Sacktuch, Papier und Fleisch."

Die Tat hat kein Motiv. "Alfred Tutein sagte mit erstickter Stimme, alle Schuld sei plötzlich. Sie eile den frevelhaften Entschlüssen voraus. Gedanken, das sei Traum. Wie kriechende Schnecken. Die handelnden Hände hinterließen das Sichtbare. Er brach verstört ab."

Nach dem Untergang der "Lais" finden die Schiffbrüchigen Rettung an Bord eines Frachters. Dort gesteht Tutein sein Verbrechen dem Verlobten Ellenas. In der "Niederschrift" erinnert sich Gustav: "Ich preßte meine Lippen auf seinen willenlosen Mund. Ich spürte das warme fade Fleisch, das sich staunend meinem Kuß öffnete. Ich roch den Angstschweiß des Mörders. Ich taumelte vor Glück."

Die Moral ist das sekundäre System. Jahnn legt bloß, was darunter liegt. Wir seien, sagte er einmal, nur "der Schauplatz der Ereignisse". Das heißt nicht, daß es Schuld nicht gibt. Es heißt nur, daß wir nicht wissen, was der Mensch ist. Jahnn folgt der schrecklichen Erkenntnis des Sophokles, daß vieles ungeheuerlich sei, nichts aber ungeheuerlicher als der Mensch. Die Nachrichten vom Ansbacher Prozeß gegen jene Horde von Erwachsenen, die Kinder mißbrauchten, und von jener Mutter, die eingestand, sie habe der Vergewaltigung ihrer Töchter mit Lust beigewohnt, stürzen jeden, der sie liest, in Depression. Die Lektüre Jahnns bedeutet keine Milderung dieser Depression. Sie macht vertraut mit der abgrundtiefen Dunkelheit, in die keine Aufklärung hinreicht. (Der jugoslawische Krieg wäre noch ein Beispiel.) Jahnns Werk ist das unablässige, verzweifelte Bemühen, diese Dunkelheit zu durchdringen, das Nichtverstehbare zu verstehen. Fluß ohne Ufer ist ja auch der 2400 Seiten umfassende, nicht endende Versuch, die Ermordung Ellenas und den Hereinbruch des Bösen zu begreifen. Jahnn findet sich damit nicht ab, er hat sich niemals damit abgefunden, aber er glaubt zu wissen, daß die Berufung auf "Moral" nichts hilft.

3. Verweigerung der Sublimation

Im Versuch, den Prozeß des Menschen von unten her zu erkunden und auf das unbestreitbare Faktische zurückzugehen, verweigert Jahnn Sublimation schlechterdings. Der Trieb, die Gier, die Aggression sind unmittelbar. Der Mensch ist Körper zuerst, und dann vielleicht Geist. In Jahnns Werk sind alle Konflikte körperliche Konflikte, alle Erkenntnisse körperliche Erkenntnisse. Das geht sehr weit: Die Wunde, das Loch im Leib, bedeutet die Öffnung des Individuums (des Mannes) für die Welt. Daß Erkenntnis Verletzung sei, hat niemand so radikal verstanden wie Jahnn. Und die innigste Verschmelzung von Tutein und Gustav ist nicht der homosexuelle Akt, sondern der Blutaustausch, der realiter vollzogen und mit medizinischer Genauigkeit beschrieben wird. Weil der Mensch Leib ist, bietet die (vor allem christliche) Vorstellung, nach dem Tod bleibe die Seele und der Rest verwese, keinen Trost. Tuteins Einbalsamierung gehört zu den peinvollsten und gewaltigsten Kapiteln im Fluß ohne Ufer.

Wie Canetti hat auch Jahnn den Tod nie anerkannt. Während Canetti den Kampf philosophisch-literarisch führte, hat Jahnn ihn materialistisch-praktisch geführt. Daß die Niederlage unvermeidlich ist, wußten beide, aber Jahnns Strategie hat den einen Vorzug, Leben und Tod konkret körperlich zu verstehen und nicht ins Metaphysische zu flüchten. Er war ein Heide.

4. Überhöhung des Menschen

Im Widerspruch dazu entwirft Jahnn Allmachtsvisionen. Nichts war ihm ferner als das Pragmatische und der Kompromiß. Der durch Zufall zum Milliardär gewordene Perrudja plant die Weltherrschaft zur Rettung der Menschheit, einschließlich Krieg und höherer Zuchtwahl. Im entscheidenden Moment aber läßt er ab von seinem Projekt, erkennt die Hybris und wendet sich nach innen. Ein Gott, der aufgibt. Und ist nicht auch Signe, die hoffnungslos Geliebte, eine Göttin, eine fremde, tierhafte, heidnische? Ein seltsameres Liebespaar als dieses kennt die Literatur nicht.

Einer anderen Erlösungsphantasie folgt Jahnn im Fluß ohne Ufer. Die Symphonie, um deren Vollendung Gustav Anias Horn ringt, trägt den Titel Das Unausweichliche. Sie ist der Versuch, die Schöpfungstragik Musik werden zu lassen. Ihre Anfänge hat Horn bei seinen Wanderungen über die Klippen der norwegischen Fjorde gefunden, in abgerissenen Birkenrinden, deren feines Engramm eine natürliche Hieroglyphenschrift enthält, die Horn in Notenschrift übersetzt: ein anderes Lied von der Erde, eine Nachbildung des Schöpfungsgesetzes. In der Niederschrift nehmen wir teil an Horns musikalischen Reflexionen, und Jahnn druckt passagenweise Kompositionsbeispiele ab, als müßte jeder Leser Noten lesen können. Gäbe es eine Rangordnung der Künste, so stünde die Musik an der Spitze, und Jahnns Utopie, verkörpert in Horn, lautet, die Musik könne die Menschheit erlösen. Wer würde behaupten, daß sie es nicht könnte? Jahnn war ein gläubiger Mensch.

5. Exzess der Aporien

Gustav Anias Horn wird ermordet. Die Erlösung wird vereitelt. Es gibt keinen Trost. "Es ist, wie es ist, und es ist fürchterlich." Kein Gott ist vorstellbar, die Aufklärung ein Fiasko, Vernunft nur ein Flatus vocis, der Fortschritt ein katastrophaler Witz. Wohin Jahnn auch immer denkt, welchen Weg auch immer seine schmerzlichen Helden einschlagen, welche Vision auch immer im Augenblick aufleuchtet: Die Aporie ist unauflösbar, der Roman nicht abschließbar, die Kunstanstrengung ein Scheitern. Am Ende steht die Finsternis. Das hinterläßt einen bitteren Geschmack. Das ist nicht sehr bekömmlich. Wenn dann, im Hinblick auf die Zentenarfeier, ein paar ambitionierte Frauen bei Jahnn Frauenfeindlichkeit und Mordphantasien aufdecken, in einer Streitschrift Weiberjahnn, deren Höhepunkt im Verdacht gründet, Jahnn sei ein Parafaschist, dann sieht man an dieser dürftigen Unternehmung, daß die Zumutung Jahnn noch immer nicht verstanden ist. Vielleicht kann sie nur verstehen, wer eine gewisse Verzweiflungsfähigkeit besitzt.

6. Aufhebung literarischer Gesetze

Perrudja erschien 1929, im selben Jahr wie Döblins Berlin Alexanderplatz. So verschieden Jahnn und Döblin auch sind, an literarischer Kühnheit kommen sie einander gleich. Thomas Manns Doktor Faustus, die Geschichte des Komponisten Adrian Leverkühn, erschien 1947. Fluß ohne Ufer, geschrieben 1935 bis 1947, erzählt die Geschichte des Komponisten Gustav Anias Horn. Berlin Alexanderplatz und Doktor Faustus gehören zum literarischen Kanon. Jahnns Romane versanken in der Vergessenheit.

Neben der unglücklichen Publikationsgeschichte spielt sicherlich Jahnns Verstoß gegen die Gesetze des Erzählens eine Rolle. Fluß ohne Ufer ist nicht nur die Geschichte eines Komponisten. Der Roman selber ist ein symphonisches Werk, gehorcht musikalischen Gesetzen, nicht literarischen. Das Holzschiff ist die Ouvertüre, in der alle Themen anklingen, die in der Niederschrift erst entfaltet und erläutert werden.

Narrative Wahrscheinlichkeit und psychologische Plausibilität interessieren Jahnn nicht. Der Schiffszimmermann Klemens Fitte, den Jahnn ungeheuer plastisch als ungebildeten, vitalen, seiner selbst nicht bewußten Menschen schildert ("dem Rechnen mißtraute um des schlechten Ergebnisses willen, das allüberall zu bemerken war"), erzählt einer staunenden Matrosenschar die Geschichte von Kebad Kenya, der sich bei lebendigem Leib bestatten ließ, einen Text, in dem sich Jahnnsche Phantasmagorien mit ältesten Mythen mischen. Weder ist glaubhaft, ein Klemens Fitte könnte das erzählen, noch, daß die Mannschaft dieser dunklen, gottlosen Legende auch nur eine Minute zuhörte - noch weiß der Leser, was das soll. Erst viel später, getragen vom Fluß ohne Ufer, sieht er das Motiv wiederkehren, in verdeutlichter Form.

Das hohe Tempo und die fieberhafte Überreiztheit der Ouvertüre weichen in der Niederschrift einer sich steigernden Retardierung, bis zum wahnwitzigen April-Kapitel, das in Norwegen spielt. Wahnwitzig ist es, weil hier die Mittelachse des Projekts liegt, das Auge das Taifuns, in dem scheinbar alles ruht und selbst die Beziehung Tutein-Gustav suspendiert ist zugunsten grandioser, selbstvergessener Beschreibungen von Landschaft und Mensch, als ob der Autor aus dem Auge verloren hätte, worum es geht - ein Largo larghissimo, in dem die Motive bis zur Unhörbarkeit verklingen. Das muß einer erst mal können: eine solche Langsamkeit, eine solche Pause, die trotz ihrer Länge an Spannung nicht verliert. (Beim Lesen fühlte ich mich erinnert an Alfred Brendel, als er einmal Beethovens letzte Sonate op. 111 spielte und die Töne wie Tropfen in einen stillen See fielen, der im Schein der Dämmerung fast keine Ringe mehr zeigte, und man wartete atemlos auf den Fortgang, ungewiß, ob er je käme.)

7. Erschöpfung der Sprache

In den wenigsten Kunstwerken sind Sprache und Inhalt deckungsgleich. Nicht selten und gerade in den scheinbar gelungenen Fällen, so etwa bei Thomas Mann, geht die Sprache über ihren Gegenstand hinaus, ist überreich, überdeterminiert und neigt zur Verdeckung und Verdickung des Eigentlichen. Bei Jahnn verhält es sich umgekehrt: Seine Sprache bleibt hinter dem Erkenntnisanspruch derart zurück, daß die Unerreichbarkeit, die Unbegreiflichkeit des Angezielten bewußt wird. Die rationale, intelligible, konstrukthafte Seite von Sprechen und Sprache reicht momentweise nicht heran an die Peripetien des Werks, an die konvulsivischen Höhepunkte.

Simple Sprachkritik liest das als Schwäche, aber die Schwäche ist auch eine Stärke, weil sie zeigt, daß es Inhalte gibt, die nicht form werden können. Jahnn hat die eigene Unzulänglichkeit oft empfunden, In einem Brief an Werner Helwig sagt er: "Die oft sonderbare Form meiner Werke ist nicht das Produkt pfiffiger Überlegung wie bei Thomas Mann, sondern ein Teil des Wachstums meiner Gedanken. Wenn ich in letzter Zeit überhaupt mit Vergnügen geschrieben habe, so nur deshalb, weil ich mir mit unerbittlicher Konsequenz vorgenommen habe, nicht im voraus zu wissen, was meinen Menschen geschieht" (20. März 1946). Zugleich aber gelingt ihm, in den Augenblicken der Entspannung, die genaueste und schönste Vollkommenheit der Beschreibung.

Jahnns Merkmal ist die Erschöpfung der Sprache im doppelten Sinn: als höchste Ausprägung und als Ermattung vor dem Gegenstand. Nietzsche sagte: "Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler Form nennen, als Inhalt, als die Sache selbst empfindet. Damit gehört man freilich in eine verkehrte Welt."

* * *

Die sieben Todsünden gegen den moralischen und literarischen Common sense sind der Widerstand, den Jahnns Werk bis heute bildet. An ihm kann nur vorbei, wer Jahnn nicht liest. Wer ihn aber liest (liest im Sinne von Musil), wird eine Erfahrung machen, die keiner anderen Leseerfahrung gleichkommt. Und wer daraus wieder auftaucht, ist ein anderer. Das sollte doch, das könnte noch immer ein Anspruch an große Literatur sein.

Die Chancen einer Wende in der Wahrnehmung Jahnns stehen nicht schlecht. Nach Abschluß der gewaltigen Hamburger Ausgabe hat der Verlag Hoffmann und Campe eine preisgünstige Jubiläumsausgabe publiziert, die es allen Neugierigen erlaubt, eigene Pfade in den Dschungel namens Jahnn anzulegen. Und seine Heimatstadt Hamburg wird dem Sohn eines Schiffszimmermannes aus Stellingen eine Zentenarfeier ausrichten, mit Ausstellung und Kongreß, mit Konzerten und Theateraufführungen, die einer Heimkehr des verlorenen Sohnes gleicht. Die Stadt, die ihren Künstlern gern jene Gleichgültigkeit entgegenbringt, die sich als Liberalität tarnt, ist auch in Sachen Jahnn lange Jahre tatenlos geblieben. Aber nun, im Hinblick auf den Hundertsten, regen sich die Kräfte zur Anerkennung dieses ungewöhnlichen, bedeutenden Mannes.

Hans Henny Jahnn: Werke in 11 Einzelbänden. Hamburger Ausgabe; Briefe I und II, 2840 Seiten

Hans Henny Jahnn: Einmalige Jubiläumsausgabe in 8 Bänden. 4408 Seiten
(beide im Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1994)

Weiberjahnn. Eine Polemik zu Hans Henny Jahnn. Herausgegeben von Frauke Hamann und Regula Venske; Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1994; 163 S., 28,- DM

Fluß ohne Ufer. Katalog zur Hamburger Ausstellung von Jochen Hengst und Sandra Hiemer. Verlag Dölling und Galitz, Hamburg 1994

Erschienen in der ZEIT vom 11.11.1994




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