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Ulrich Greiner

Kafka ist klar

Endlich, 58 Jahre nach Kafkas Tod, erscheint der erste Band der kritischen Gesamtausgabe: „Das Schloß“, Kafkas letzter und längster Roman.

(Der folgende Beitrag erschien in der ZEIT am 10. September 1982.)

"Ehrlichkeitshalber möchte ich zugeben, daß ich mich vor langer Zeit einmal mit dem Gedanken trug – wie schließlich jeder sensible Intellektuelle –, ein Buch über Kafka zu schreiben. Durch diese Phase muß man nun einmal hindurch, und man braucht sich ihrer so wenig zu schämen wie einer jugendlichen Schwärmerei. Was mich damals allerdings davon abhielt, war weniger eine Abkehr von dem Thema als der Umstand, daß meine sämtlichen Bekannten bereits an einem Buch über Kafka schrieben (nicht alle an einem; jeder für sich natürlich)." (Wolfgang Hildesheimer Lieblose Legenden).

Ehrlichkeitshalber möchte ich zugeben, daß ich mich vor langer Zeit einmal mit dem Gedanken trug, über Kafka zu promovieren. Was mich allerdings davon abhielt, war der Umstand, daß damals die Kafka-Bibliographie von Harry Järv erschien. Järv, Bibliothekar an der Königlichen Bibliothek in Stockholm, hatte rund fünftausend Titel von Aufsätzen und Büchern über Kafka ausfindig gemacht. Das war 1961, etwa in jener Zeit, als Wolfgang Hildesheimer seine Satire Ich schreibe kein Buch über Kafka veröffentlichte. Wenn man den seither eher gewachsenen Publikationsfleiß der Germanisten bedenkt, dann ist es sicherlich nicht übertrieben, den Umfang der Kafka-Literatur auf zehntausend Titel zu schätzen. So gesehen wäre es tatsächlich an der Zeit, nicht mehr über Kafka zu schreiben, sondern über die Kafka-Rezeption. In Anlehnung an Hildesheimers Satire müßte man zum Beispiel eine Biographie des Kafka-Bibliographen Harry Järv schreiben, und irgendwann gäbe es dann eine Biographie des Järv-Biographen.

Das Schreiben und Denken über Franz Kafka wird nie ein Ende nehmen. Seine Werke gleichen einem unerschöpflichen Orakel an die Adresse jedes einzelnen, und jeder, der sie liest, deutet das Orakel auf seine Weise. Sie gleichen einem unendlichen Labyrinth, und jeder, der sich darin verirrt, auf jeweils verschiedenen Pfaden, wird jeweils ein anderer. Kafka zu lesen heißt, sich einer permanenten Verführung zur Interpretation auszusetzen. Wer dieser Verführung erliegt und Kafka deutet, hat nicht Kafka gedeutet, sondern sich selbst.

Von Kafka gibt es ein kurzes Prosastück über die Prometheus-Sage. Es endet mit den Sätzen: „Die Sage versucht, das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden.“ Angewendet auf die Kafka-Interpretationen könnte das heißen, daß jede Deutung, die im Erklärlichen endet, nicht aus einem Wahrheitsgrund kommt. Gröber gesagt: Jeder, der Kafka erklärt, hat ihn nicht erklärt.

Am Anfang seines zuerst 1962 erschienenen Buches Franz Kafka, der Künstler schreibt Heinz Politzer über die Parabel Gibs auf!. Sie lautet: „Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmtuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, daß es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich mußte mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: ,Von mir willst Du den Weg erfahren?‘ ,Ja‘, sagte ich, ,da ich ihn selbst nicht finden kann.‘ ,Gibs auf, gibs auf‘, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.“

Politzer interpretiert den Text nicht, sondern er liest ihn, mehrmals, langsam, übergenau und sensibel, und er schildert diesen Lektüre-Vorgang. Dann resümiert er die verschiedenen Deutungen dieser Parabel, die psychologischen, biographischen, existentialistischen, materialistischen, religiösen Interpretationen. Politzers Ausführungen, die keineswegs weitschweifig sind, umfassen fünfundzwanzig Buchseiten, Kafkas Parabel, Ende 1922 geschrieben, zehn Druckzeilen. Und das ist noch ein relativ günstiges Verhältnis von Primär- und Sekundärtext. Politzer kommt zu dem Schluß, daß Kafkas Gleichnisse ebensoviele Deutungen wie Leser finden. „Diese Parabeln sind ,Rorschach-Tests‘ der Literatur.“

Das Merkwürdigste jedoch an der von Hildesheimer verspotteten und von Politzer begründeten Deutungs- und Schreibwut in Sachen Kafka ist ihre philologische Sorglosigkeit. Jahrzehntelang stürzten sich die Interpreten auf Texte, deren Wortlaut unzuverlässig, deren Datierung und Chronologie unsicher war. Jedermann wußte, daß die von Kafkas Freund, dem Schriftsteller Max Brod herausgegebene Ausgabe ungenau und mangelhaft war. Den Umständen entsprechend konnte sie gar nicht besser sein. Unter Kafka-Kennern war es unstrittig, daß eine historisch-kritische, also wissenschaftliche Ausgabe die von Brod werde ablösen müssen. Das war übrigens auch Brods Ansicht. 1931 schrieb er im Nachwort zu dem Band Beim Bau der Chinesischen Mauer: „Gewiß wird eine ,definitive Edition‘ künftiger Tage mit Sonderungen, Textvarianten und Konjekturen operieren müssen. Während wir hingegen bemüht waren, ein lesbares und den mutmaßlichen Intentionen Kafkas möglichst nahekommendes Ganzes vorzulegen.“

Schon 1953 bemerkte Adorno in seinen Aufzeichnungen zu Kafka: „Die Autorität Kafkas ist die von Texten. Nur die Treue zum Buchstaben, nicht das orientierte Verständnis wird einmal helfen.“ Damals war die Lust, über Kafka zu schreiben, größer als die Einsicht, zuerst einmal müsse der Text, über dem man so inbrünstig grübelte, gesichert werden. „Die Mißverständnisse um Kafka werden so lange noch sich potenzieren, als wir keine sichere Grundlage: keinen gesicherten Text haben“, schreibt Ludwig Dietz in seiner eben erschienenen Untersuchung über die Veröffentlichungen Kafkas zu seinen Lebzeiten. Sie gehört zu jenen in den letzten Jahren häufiger publizierten Büchern, die nicht neue Spekulationen auf alte türmen, sondern exakte Recherche liefern.

So ist also die historisch-kritische Gesamtausgabe Kafkas, deren erster Band Das Schloß jetzt erschienen ist, der wichtigste Beitrag zur Kafka-Forschung, der überhaupt denkbar ist. Endlich haben wir Kafka im Wortlaut, endlich gibt es sicheren Boden für Kafka-Leser. Jetzt kann jeder die wunderbar gedruckte Ausgabe in die Hand nehmen und, unbekümmert um die zehntausend Kafka-Publikationen, seinen eigenen Kafka und damit sich selber entdecken. Die Geschichte, die der Roman erzählt, ist nämlich viel einfacher, als es im Dickicht der Deutungen den Anschein hatte. Die Sprache ist konkret und bestimmt, die Sätze, wenn man sie nur wörtlich nimmt und ihnen nichts unterschiebt, sind logisch und klar.

Kafka war kein Dunkelmann, kein Phantast. Er arbeitete als Jurist in der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, er veröffentlichte Aufsätze über Unfallverhütung, schrieb die Jahresberichte seiner Versicherung, die offenbar von den Kollegen wegen ihrer Klarheit geschätzt wurden, er war Gutachter in vielen Schadensersatzprozessen. Dieselbe Schlüssigkeit des Gedankengangs findet sich in Kafkas literarischen Texten. Warum auch hätte er, der sich in seinen amtlichen Schriften so präzise ausdrücken konnte, diese Fähigkeit beim Dichten plötzlich verlieren sollen? Auffällig ist nur, daß die Interpreten, die doch Dunkles erhellen wollen, viel dunkler sind als Kafka.

Das Maß des Dunklen, Unheimlichen im Schloß ist das Maß der Einbildungkraft des Lesers. Die allerdings wird aufs Tückischste angeregt, entfacht, eben deshalb, weil das, was da zu lesen steht, zwar völlig logisch ist, aber unseren Verstand quält, weil die Geschichte zwar banal ist, zugleich aber etwas wie einen befremdlichen Geruch ausströmt, dessen Ursache rätselhaft bleibt. Es riecht nach Vergeblichkeit, Verzweiflung, Tod, nach irgend etwas höchst Unangenehmem also, aber die Geschichte bietet auf ihrer Oberfläche keine näheren Anhaltspunkte dafür. Denn dem Landvermesser K. geht es am Ende des Fragment gebliebenen Romans nicht schlecht. Zwar wird es mit der Landvermesserei nichts, das Ganze war offensichtlich ein Versehen der gräflichen Bürokratie, aber K. findet am Ende Unterkunft und Arbeit bei dem Fuhrmann Gerstäcker, und es ist ihm immerhin gelungen, mit Schloßbeamten erste Kontakte zu knüpfen. Das ist wenig, aber wenn wir uns erinnern, wie K. ins Dorf kam, einsam, müde, durchnäßt, auf einem Strohsack nächtigend, dann müssen wir zugeben, daß er immerhin etwas erreicht hat. Sein Schicksal und seine Erlebnisse im Dorf sind zwar nicht gerade erfreulich, aber keineswegs so finster, wie viele Interpreten suggerieren.

Es gibt sogar ausgesprochen komische Szenen im Schloß. So etwa, wenn der Lehrer in K.s Zimmer kommt, um ihm mitzuteilen, die Gemeinde biete ihm die Stelle eines Schuldieners an, und K. tadelt: „,Auch merke ich leider, daß mir Ihr Benehmen noch viel zu schaffen machen wird, die ganze Zeit über verhandeln Sie ja mit mir, ich sehe es immerfort und glaube es fast nicht, in Hemd und Unterhosen.‘ - ,Ja', rief K. lachend und schlug in die Hände, ,die entsetzlichen Gehilfen, wo bleiben sie denn?‘“. Komischer, wenngleich makabrer Höhepunkt des Romans ist K.s nächtliches Zusammentreffen mit dem Sekretär Bürgel. Dieser, ein maulfertiger, listiger Geselle, hält ihm eine selbstironische Vorlesung über das Problem der sich überschneidenden Zuständigkeiten der Schloßbehörden und gibt ihm zugleich äußerst wertvolle Hinweise darauf, wie er seinen Zielen näher kommen könnte. K. jedoch, anstatt zuzuhören, kämpft mit dem Schlaf und verflucht das nicht nachlassende Gerede Bürgels. Eine Szene, die an Karl Valentin erinnert.

In einer der von Kafka gestrichenen Passagen des Romans, die man nun in der neuen Ausgabe nachlesen kann, heißt es: „Die Geschichte selbst ist aber zu komisch". Max Brod berichtet über eine Lesung Kafkas: „So zum Beispiel lachten wir Freunde ganz unbändig, als er uns das erste Kapitel des Prozeß zu Gehör brachte. Und er selber lachte so sehr, daß er weilchenweise nicht weiterlesen konnte."

So reagiert, wer seine Aufmerksamkeit auf die Oberfläche der Texte richtet und nicht dauernd auf ihrem dünnen Boden deutend herumstochert. Die Oberfläche wahrzunehmen, ist nicht oberflächlich. Es entspricht dem Text. Wer so liest, bedarf keiner Interpretation. Die Geschichte ist schrecklich und komisch, rätselhaft und glasklar in einem. Und so sind ja auch die Erfahrungen, die wir im Leben machen, wenn wir sie nicht, wie gewöhnlich, einordnen und zurechtinterpretieren. Das ist einer der Gründe für die anhaltende Irritation, die von Kafkas Texten ausgeht: Nichts erscheint in ihnen gewiß und unverrückbar. Ein Hagel von Vermutungen, eine so plausibel und logisch wie die andere, prasselt auf den Leser nieder; der eine Satz, eben noch richtig, wird vom nächsten schon aufgehoben, und dieser durch den übernächsten, der den ersten wiederum wahrscheinlich, aber keinesfalls sicher macht. So geht es fort und fort in einem Strom des Zweifels, und kein Gott, der endlich das Mühlrad im Kopf anhielte. Niemand kann sagen, das sei obskur. Nein, alles ist klar, erschreckend klar.

Unser Kafka-Bild ist allzu kafkaesk. In einem Brief an Max Brod schrieb Kafka aus der Sommerfrische: „Ich fahre viel auf dem Motorrad, ich bade viel, ich liege nackt im Gras am Teiche, bis Mitternacht bin ich mit einem lästig-verliebten Mädchen im Park..." Auch das ist auch Kafka.

Zu unserem Kafka-Bild gehört die Legende, Kafka habe die Veröffentlichung seiner Werke nicht gewollt, Max Brod habe ihm nur Weniges entreißen können. Dazu scheint auch die Tatsache zu passen, daß Kafka seine Manuskripte dem Freund mit der Bitte gab, sie zu vernichten. Joachim Unseld zeigt in seinem vorzüglichen Buch Franz Kafka - Ein Schriftstellerleben, daß dies so einfach nicht ist. Kafka wollte ein Schriftsteller sein, Ruhm und Ansehen waren ihm keineswegs gleichgültig, und er sehnte sich danach, die Büroexistenz aufgeben und von seinen Büchern leben zu können. Daß es dazu nicht kam, hatte, wie Unseld darstellt, vornehmlich zwei Gründe: erstens Kafkas Skrupelhaftigkeit; zweitens die Ungunst der Situation, vor allem das mangelnde Verständnis des Verlegers Kurt Wolff.

Zu Wolff hatte Kafka bei der ersten Begegnung gesagt: „Ich werde Ihnen immer viel dankbarer sein für die Rücksendung meiner Manuskripte als für deren Veröffentlichung." Dieser Ausspruch ist immer als Beweis für die krankhafte Bescheidenheit Kafkas verstanden worden. Tatsächlich jedoch bezeugt er, wie Unseld begründet, Kafkas Ehrgeiz, einen skrupulösen Hochmut, der sich mit Zurückhaltung tarnte. Denn Kafka, immer mißtrauischer gegen das Lob der Prager Kollegen, vor allem des ständig begeistert drängenden Max Brod, suchte die Diskussion mit einer neutralen, kompetenten Person. „Dankbar sein für die Rücksendung" - das hieß, dankbar für eine Kritik, die ihm die Zweifel an sich selber hätte nehmen können, eben dadurch, daß sie ihn ernst nahm. Das Lob Brods dagegen war Kafka nicht selten peinlich. Einen Verleger, der mit seinem Autor in ein verständnisvolles, intellektuell ergiebiges Verhältnis getreten wäre, hat Kafka nie gefunden. In Ernst Rowohlt sah er einen solchen Mann. Als dieser sich jedoch von Wolff trennte, war die Beziehung abgerissen. Wolff war in seiner Zuwendung äußerst sprunghaft und sehr von äußeren Interessen bestimmt. Er verstand Kafka nicht. Das Urteil Joachim Unselds über den vielgerühmtm Verleger Kurt Wolff ist, bei aller Subtilität, die sein Buch auszeichnet, vernichtend.

Max Brods Verdienste schmälert Unseld nicht. Sie liegen vor allem in der unermüdlichen Ausdauer, mit der Brod die Veröffentlichung einer Gesamtausgabe vorantrieb. Seine Anstrengungen, durchkreuzt von Krieg, Vertreibung und Emigration, haben erst heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kafkas Tod, mit der nun beginnenden Ausgabe ihr Ziel erreicht. Das Schicksal, das Kafkas Manuskripte erlitten, ist abenteuerlich; so, als ob sie mit dem Widerstand Brods gegen Kafkas Vernichtungsabsicht für immer gerettet worden wären, blieben sie bis heute erhalten, allen drohenden Katastrophen zum Trotz. 1939 mußte Brod aus Prag emigrieren. In einem Koffer (andere hätten in solcher Not nur an sich selber gedacht) schleppte Brod die Handschriften nach Tel Aviv. Von dort wurden sie 1956, als die Suez- Krise ausbrach, in die Schweiz geschafft und 1961 endgültig in der Bodleian-Library in Oxford aufbewahrt.

Dort ist nun nahezu alles von Kafka versammelt. Nahezu, denn noch fehlen das Manuskript des Prozeß-Romans und Teile der Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande. Max Brod hatte diese Handschriften seiner Sekretärin Ilse Ester Hoffe vermacht. Mit ihr stehen noch heikle Verhandlungen bevor. Fragt man im S. Fischer Verlag oder bei den Herausgebern nach, so hört man ängstliche und übervorsichtige Andeutungen. Offenbar verlangt Frau Hoffe sehr viel Geld, wünscht wohl auch intensivere Bemühungen des Verlags um das Werk Max Brods, der ja immer etwas darunter gelitten hat, daß man sagte: Max Brod, das war doch Kafkas Freund? Und dabei vergaß, daß Brod viele Romane geschrieben hat und zu Lebzeiten Kafkas weit berühmter war. Da aber Frau Hoffe mit dem Besitz der Prozeß-Handschrift über das weitere Gelingen der Ausgabe verfügen kann, wird man sich ihren Wünschen wohl beugen müssen.

Der englische Germanist Malcolm Pasley bewacht in Oxford die Handschriften und schützt sie vor den Scharen amerikanischer Germanisten. Zugang zu den Manuskripten, die oft mit Bleistift und in winziger, noch nicht enträtselter Schrift geschrieben sind, haben nur die Herausgeber der neuen Ausgabe: Jürgen Born (zugleich Leiter der Forschungsstelle Prager deutsche Literatur an der Universität Wuppertal, wo das Zentrum der Edition sitzt), Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit. Die Ausgabe ist auf vierzehn Bände geplant, jährlich soll einer erscheinen. Im nächsten Frühjahr kommt Der Verschollene (herausgegeben von Schillemeit), danach ein Band mit Drucken zu Lebzeiten (Neumann), ab 1985 drei Bände Tagebücher (Born), dann vier Briefbände, Der Prozeß, Schriften aus dem Nachlaß (2 Bände) und als letzter ein Band mit Amtlichen Schriften und Sprachstudien, dazu jeweils die Apparatbände. Unveröffentlichte Texte wird vor allem dieser letzte Band bringen. Die Edition wird unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, das Land Nordrhein-Westfalen finanziert die Wuppertaler Forschungsstelle.

Mit dem Schloß, herausgegeben von Malcolm Pasley, ist nun der letzte und umfangreichste Roman Kafkas zugänglich. Die kritische Ausgabe besteht aus zwei Bänden; einer enthält den Text, ein zweiter die Bestandsaufnahme der Handschriften, ein Verzeichnis der Varianten und der editorischen Eingriffe sowie hilfreiche Essays von Pasley. Daneben gibt es eine Leseausgabe, wesentlich billiger, dennoch schön gedruckt und gebunden. Der Apparatband ist auch für den ungeübten Leser, mit etwas Geduld, benutzbar. Nun läßt sich die Arbeitsweise Kafkas genau verfolgen. Man kann herausfinden, welche Stellen Kafka korrigiert, welche er gestrichen hat, wo die Arbeit stockte, wo sie flüssig voranging. Man kann nachlesen, daß der Roman zunächst mit „Ich“ begann: „Es war spät abends als ich ankam", und daß Kafka die erste Person bis zu jener obszönen Stelle beibehielt, wo K. sich mit dem Schankmädchen Frieda hinter dem Tresen in Bierpfützen wälzt. Von da an wechselte Kafka in die dritte Person („K.“) und redigierte die vorherigen Seiten. Dazu mußte er an Formulierungen und am Satzbau nichts ändern; Beweis dafür, daß die Erzählhaltung des Romans schon von Anfang an auf die dritte Person zulief.

Ungewöhnlich ist die Zeichensetzung. Kafka verwendete in der Handschrift nur selten Kommata. Dies erklärt Pasley aus dem Atemrhythmus der Sätze. Man weiß, daß Kafka sehr schnell und musikalisch vorlas, und es läßt sich vermuten, daß er Unterbrechungen durch Satzzeichen deshalb mied. Dennoch scheint mir, daß Pasley etwas zu sparsam war. Man stolpert öfter beim Lesen. Nicht einleuchtend ist die Orthographie. Pasley hat weitgehend Kafkas Schreibweise übernommen. So heißt es etwa: „Schooß“, „gieng“, „gebürend“. Warum aber ändert Pasley „Verläumdung“ in „Verleumdung“, „Dienstesversäumnisse“ in „Dienstversäumnisse“, „Bitterheit“ in „Bitterkeit“ (zum Beispiel)? Das scheint mir nicht logisch.

Aber es gehört zu den großen Vorzügen dieses ersten Bandes, daß man alles nachlesen und selber überprüfen kann. Einen völlig neuen Text bringt er nicht. Neu sind immerhin viele Varianten. Es zeigt sich, daß Max Brod zuverlässiger gearbeitet hat, als man bisher dachte. Der Nutzen der neuen Ausgabe liegt denn auch vor allem darin, daß sie erstens allen Zweifeln ein Ende setzt, und daß sie es zweitens erlaubt, die Entstehung des Romans bis in die fernsten Verzweigungen zu verfolgen. Diese Edition wird sicherlich einige Generationen von Germanisten beschäftigen und neue Bibliographien hervorrufen. Die Wege der Wissenschaft sind oft wunderbar und langwierig und leider selten so sinnvoll wie im Fall der neuen Kafka- Ausgabe. Sie ist die Voraussetzung für das Wichtigste: Kafka lesen.


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