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Ulrich Greiner

Das Unsagbare am Rande des Unsäglichen

Über das sprachliche Straucheln großer Schriftsteller
Vortrag Freie Akademie der Künste Hamburg 1997

Als Till Eulenspiegel von seinem ersten Dienstherrn den Auftrag erhält, die Kutsche zu schmieren, nimmt er das Wagenfett und schmiert die Kutsche von außen und innen gründlich ein, so daß der Herr Pfarrer am nächsten Morgen mit seiner Soutane an den Polstern festklebt. Und als der wütende Dienstherr ihm befiehlt, sofort das Haus zu räumen, trägt Till Eulenspiegel sämtliche Möbel auf die Straße.

Der grobe Witz dieser Streiche besteht darin, daß Till Eulenspiegel die Sprache wortwörtlich nimmt. Indem er sich auf die exakte Bedeutung einer Aussage beruft, legt er sie gegen ihren Urheber aus. Er kündigt den sprachlichen Konsens auf. Denn Sprache ist selten exakt in dem Sinn, daß sie unabhängig wäre von der Situation, in der sich Sprecher und Hörer befinden. Sprachliche Kommunikation setzt voraus, daß die Beteiligten auf demselben Boden agieren. Sie rechnet damit, daß eine Basisverständigung darüber existiert, was gemeint sein soll. Wo derlei fehlt, haben wir die Sprache der Jurisprudenz und der Bürokratie, und auch der gelingt Eindeutigkeit allzu oft nicht. Die Sprache alltäglicher Verständigung jedoch ist häufig metaphorisch, sie bedient sich der Abbreviatur und der Ellipse, sie bezieht ihre Aussagen auf einen gemeinsamen situativen Horizont. Wenn der Dienstherr zu seinem Kutscher sagt: „Schmiere den Wagen“, dann ist auch dann klar, was gemeint ist, wenn der Satz objektiv mehrere Deutungen zuläßt.

Dies gilt noch mehr für literarische Texte. Sie sind auf die Offenheit des Lesers angewiesen. Er muß verstehen wollen, was gemeint ist. Wenn ihm die Botschaft des Textes zuwider ist, dann hilft keine Sprachkunst und keine Sprachgenauigkeit. Das literarische Werk gleicht einem Bild, vielleicht einem jener Landschaftsgemälde der Renaissance, in das der Leser hineingehen muß wie ein Wanderer, der die Mühsal des Gehens und die Gefahr des Verirrens in Kauf nimmt, um den ungeahnten Ausblick zu genießen. Wem der Ausblick mißfällt, der wird jeden Schritt, den er zurückgelegt hat, bedauern, dem wird jeder Satz, den er liest, zuviel sein, und er wird Kritik an der Sprache des Autors üben. Aber eigentlich meint er die Kritik an der Sache, die den Autor umtreibt und die der Autor vorantreibt.

Hier beginnt mein Vorbehalt gegen Sprachkritik. Sprachkritik gilt als da A und O jeder kritischen Beschäftigung mit literarischen Texten. Aber oft gleicht sie einer mikroskopischen Analyse, die das Detail bemäkelt und das Ganze ignoriert. Dann wird Sprachkritik zur Bastion des Neunmalklugen, der nichts begriffen hat. Dann ist Sprachkritik das, was immer geht, wenn nichts mehr geht. Sprachkritik fällt jedem ein, der manches gelesen und manches geschrieben hat. Weshalb sind es immer die Halbgebildeten mit der Schulmeisterattitüde, die das Trumpf-As der Sprachkritik aus dem Ärmel ziehen? Den armen Karl Kraus im beckmesserischen Rucksack ziehen sie gegen falsche Grammatik, schiefe Bilder und schlechte Anschlüsse zu Felde, aber sie gleichen dem unbegabten Musterschüler, der voller Schadenfreude zusieht, wie der viel begabtere Banknachbar an den simplen Aufgaben scheitert.

Sprachkritik gehört zum preiswerten Inventar des kritischen Gewerbes. In der Geschichte der Literaturkritik sind die größten Fehlurteile sprachkritische Urteile gewesen. Daß der Dichter nicht schreiben kann, weiß der Rezensent ziemlich schnell. Er weiß aber nicht, was das heißt: schreiben können. Deshalb hält sich der Rezensent gerne an die Perfektionsillusion, an deren Ende Dichter wie August Graf von Platen, Paul von Heyse oder Gerd Gaiser den Nobelpreis kriegen müßten oder gekriegt haben.

Wahr ist hingegen, daß sprachliche Perfektion weder eine hinreichende Bedingung noch ein Ausschlußgrund für bedeutende Literatur ist. Der große Adalbert Stifter hat eine steifleinerne, umständlichkeitsversessene Substantivierungsprosa gepflegt, die zum Lachen wäre, wäre sie nicht der einzig angemessene Ausdruck seiner ungeheuerlichen Realitäts- und Zeitverneinung. Und hat nicht einer der größten deutschen Sprachkünstler, hat nicht Rainer Maria Rilke Verse geschmiedet, bei denen es einem kalt über den Rücken läuft, als hätte einer die Kreide an der Schultafel falsch geführt? Und ist es nicht die Eigenheit eines der großen deutschen Schriftsteller, die Eigenheit von Hans Henny Jahnn, daß der Preis für die grandiose Melodie seiner Sprache ihr nicht seltener Absturz zu sein scheint?

Daß er gut schreibt, darf man vom Kritiker mit Recht verlangen, denn dafür wird er bezahlt. Aber erwarten wir im Ernst von einem großen, einem überragenden Schriftsteller, daß er bloß gut schreibe? Nein, wir erwarten mehr. Und was ist dieses Mehr? Es kann doch nur darin bestehen, das Maß dessen, was als gut und schön gilt, zu durchbrechen. Eine Prosa, die einen solchen Durchbruch erzielt, kann dann besser als gut sein, sie kann aber auch die Kategorien in eine schändliche Verwirrung bringen. In der Werbebranche würde man so etwas Innovation nennen. Für meine Zwecke genügt die Beobachtung, daß einige der größten Schriftsteller manchmal nicht besonders gut schreiben, und Beispiele dafür will ich Ihnen nicht vorenthalten. Diese Autoren gleichen einem Forschungsreisenden, der, gezeichnet von den Strapazen seiner Expedition, nur in unbeholfenen und stockenden Worten die Wunder seiner Entdeckung zu berichten vermag.

Im Stimmenimitator von Thomas Bernhard, einer Sammlung erfundener Anekdoten, erschienen 1978, findet sich unter dem Titel Schöne Aussicht die folgende Geschichte, die ich leicht gekürzt zitiere:

„Auf dem Großglockner hatten, nach stundenlangem Aufstieg, zwei freundschaftlich miteinander verbundene Professoren der Universität Göttingen, die in Heiligenblut einquartiert gewesen waren, den Platz vor dem oberhalb des Gletschers montierten Fernrohr erreicht. Sie hatten sich naturgemäß der einzigartigen Schönheit dieses Hochgebirges nicht entziehen können und einer hatte immer wieder den Anderen zuerst durch das Fernrohr schauen und sich auf diese Weise den Vorwurf des Andern ersparen wollen, er dränge sich an das Fernrohr. Schließlich hatten sich die beiden einigen können und der ältere und gebildetere hatte zuerst durch das Fernrohr geschaut und war von dem Gesehenen überwältigt gewesen. Als sein Kollege jedoch an das Fernrohr herangetreten war, hatte er, kaum daß er durch das Fernrohr geschaut hatte, einen gellenden Schrei ausgestoßen und war tödlich getroffen zu Boden gestürzt. Dem hinterbliebenen Freund des auf diese merkwürdige Weise Getöteten gibt es naturgemäß noch heute zu denken, was tatsächlich sein Kollege im Fernrohr gesehen hat, denn dasselbe bestimmt nicht.“

Wir können diese Geschichte als eine Parabel über literarische Mentalitäten lesen. Wie reagiert Literatur angesichts des Einzigartigen und Überwältigenden? Geht es darum, daß dem einen Autor der angemessene Ausdruck gelingt und dem andern nicht? Das wäre ja nur der Unterschied zwischen Können und Nichtkönnen. Wichtig ist der letzte Satz der Anekdote: Die beiden, die durch das Fernrohr geschaut haben, haben bestimmt nicht dasselbe gesehen. Der eine war überwältigt, und er hat davon erzählen können. Was der andere gesehen hat, wissen wir nicht, aber es wird schrecklich gewesen sein. Der Blick in die Nachtseite unserer Existenz, der Anblick des Ungeheuerlichen kann einem die Sprache verschlagen, aber diesen Blick zu riskieren, ist die hervorragende Aufgabe der Literatur. Wer sonst könnte das?

Sie sehen, daß meine Sympathie jenen Autoren gilt, die bis zur Grenze des Sagbaren vorstoßen, jenen Autoren also, die das Risiko des Unsäglichen nicht scheuen, indem sie das Unsagbare zu sagen versuchen. Daß sie dabei straucheln, kann man ihnen vorhalten. Aber dieses Straucheln ist, so scheint mir, oft erregender und aufschlußreicher als das Nichtstraucheln der Profis. Ein Goethe strauchelt nicht, ein Thomas Mann auch nicht. Kleist schon eher. Döblin natürlich und auch der bereits erwähnte Rilke. Bei Musil haben wir es weniger mit einem sprachlichen Straucheln zu tun als mit einem literarischen: Das Projekt des Mannes ohne Eigenschaften erweist sich als unvollendbar. Natürlich ist das Straucheln allein noch kein Qualitätsmerkmal. Aber: Für sich genommen beweist es noch nicht sehr viel gegen einen Autor.

Ich will nun konkret werden und und wende mich einem wenige Jahre zurückliegenden Streit zu, dem Streit über den Prosaband von Botho Strauß Wohnen Dämmern Lügen. Das Buch ist damals, im Herbst 1994, kaum daß es im Buchhandel war, in der ZEIT, in der FAZ und in der Frankfurter Rundschau ausführlich und prominent verrissen worden. Der einhellige und eifernde Zorn der Kritiker war mindestens auffällig. In den Rezensionen hieß es, Strauß sei die „Prätentionspotenz“ und „der eifernde Mythomane“; „ein Denker, dessen Gedanken eher aus Lektüren genährte Affekte zu nennen sind“; „ein so unsicherer Stilist, daß er kaum eine Seite zustande bringt, aus der man nicht eine Peinlichkeit, einen Stilbruch, eine Stilblüte zitieren könnte“. Seine Prosa, so wurde gesagt, sei „eine Mischung aus Plattköpfig- und Heiligkeit“, sie zeuge von „penetrantem Dünkel“ und von „verquerem Kunstwollen“, in ihr finde man nichts als „schulmeisterliches Gedröhn“ und „totgeborene Konstrukte“.

So schlecht kann einer gar nicht schreiben, daß er sich alle diese Injurien redlich verdient hätte. Ich wurde damals den Verdacht nicht los, daß hinter dieser Sprachkritik etwas anderes steckte und daß der Streit nur ein Nachspiel des viel größeren Streits um den Bocksgesang-Essay war, den Strauß Anfang 1993 veröffentlicht hatte. Den Kritikern paßte die ganze Richtung nicht. Ihnen mißfiel der kalte, abweisende, elitäre Ton seiner Prosa.

Ich will Ihnen ein Beispiel dafür geben. In einem der Erzählfragmente des Bandes schlägt ein Mann grundlos und plötzlich eine Frau. Er läßt von der Prügelei ab, weil sich die Frau nicht wehrt. Ihn hindert, wie es im Text heißt, „die Gebärde des abgewandten Blicks, des wehrlos dargebotenen Halses, die auch unter Wölfen und Hähnen den Angreifer beschwichtigt“. Diese Formulierung wurde in der Kritik als schlagendes Beispiel der „biologischen Mystik“ von Botho Strauß zitiert. Der folgende Satz der Erzählung lautet: „Hätte sie ihn jetzt geradeaus, gar flehentlich oder fassungslos angesehen, so hätte sich nichts gerührt in seinem Gewissen. In dem Augenblick aber, da er, ausgelöst von der Abkehr ihres Gesichtes, eine nie zuvor empfundene Wärme des Herzens genoß, war der kleine Schaltkreis der Passion eingerichtet und abgeschlossen, der sie für unbestimmte Zeit voneinander abhängig machte.“

Wenn wir für einen Augenblick den Vorgang selber ausblenden und unser Augenmerk auf die Sprache richten, so bemerken wir in der Tat einen angespannten, gestauchten Sprachduktus. Er zeigt sich etwa in der vorgezogenen Apposition „ausgelöst von der Abkehr ihres Gesichts“, die sich auf die „nie empfundene Wärme des Herzens“ bezieht. Der Satz verläuft aber so: „da er, ausgelöst von der Abkehr ihres Gesichts...“ und führt zunächst grammatisch in die Irre. Ist das ein Mißgriff? Und ist das Bild vom „Schaltkreis der Passion“ wirklich geglückt? Die Frage läßt sich erst beantworten, wenn wir das Thema des Textes bedenken. Es ist das schreckliche Geheimnis sadistisch-masochistisch ineinander verschlungener Paare. Nicht biologische Mystik ist sein Ziel, sondern die blitzartige Erhellung eines finsteren Zusammenhangs: daß unterhalb des Gewußten und des Erklärbaren nicht selten das eigentliche Rätsel hockt; und sichtbar wird es in der elementarsten aller Begegnungen, in der Liebesbegegnung. Wer das leugnet, hat nichts begriffen. Botho Strauß vorzuwerfen, wie die Kritik es getan hat, daß sein Thema das „machtvolle Dunkel“ sei, ist unsinnig, weil das „machtlose Aufgeklärte“ heutzutage in jeder Zeitschrift, von Psychologie heute bis Brigitte, nachzulesen ist.

Der „hohe Ton“, der Strauß vorgeworfen wird, und seine angeblich „verrutschten Metaphern“ sind Ausdruck einer Anspannung und Anstrengung, das Nichtbegriffene zu begreifen und das Nichtgesehene zu sehen. Dieser Anspruch aber richtet sich gegen den intellektuellen Common sense, gegen die geläufigen Tröstungen und ideologischen Verläßlichkeiten, und er richtet sich gegen die Sprache der Verständigungstexte und des Juste milieu. Daraus erklärt sich der hochfahrende, elitäre Ton von Botho Strauß, die halb moderne, halb archaische Metaphorik. Sprachliches Gelingen erweist sich an der Kongruenz von Ausdruck und Absicht. Wer die Absicht mißbilligt, neigt dazu, den Ausdruck zu mißbilligen. Aber das führt in die Irre.

Das Unsagbare im Falle von Botho Strauß ist die gezielte politische Unkorrektheit. Das Unsagbare ist der Versuch, konservatives Denken, das unter den Trümmern der deutschen Vergangenheit begraben liegt, sich neu anzueignen und es als ein Erkenntnismittel zu nutzen, das uns hilft, schwer begreifliche Vorgänge unserer Gegenwart zu begreifen - ob das der Krieg in Tschetschenien ist oder der in Bosnien oder der Zorn der Muslime gegen die westliche Moderne. Das Unsagbare ist der Rückgriff auf einen vormodernen Konservatismus und einen antimodernen Elitismus. Es läßt sich nicht abstreiten, daß dieses Unsagbare nicht selten das Unsägliche streift, nämlich die gestelzte Sprache, das würdevolle Pathos und das politisch Fragwürdige. All das läßt sich bei Botho Strauß finden, aber es sollte uns nicht den Blick dafür verstellen, daß hier einer denkend und schreibend etwas riskiert. Ich jedenfalls lerne von Botho Strauß mehr als von den meisten gegenwärtigen deutschen Autoren, die manchmal schöner, manchmal weniger schön das sagen, was man auch selber hätte sagen können.

Überhaupt scheint mir die Frage interessant: Weshalb lohnt Literatur? Doch nicht deshalb, weil sie bestätigt, was man ohnehin für richtig hält; nicht deshalb, weil sie die Sprache spricht, die wir gerne hören. Literatur lohnt, wenn sie der Stachel ist. Und wenn sie der Stachel ist, dann wird er zuerst an der Sprache sichtbar. Sie ist es, die uns ärgert oder peinigt. Aber dahinter steckt etwas anderes. Deshalb halte ich wenig davon, einen Autor sprachkritisch erledigen zu wollen.

Das hat der Kritiker Michael Maar in der FAZ versucht, als er im Streit um den Bocksgesang von Botho Strauß einige anscheinend oder scheinbar mißglückte Sätze aufspießte und glaubte, damit sei alles gegen Strauß gesagt. Ich bin davon überzeugt, daß es sich bei diesem weidlich diskutierten Text nicht um einen dezidiert politischen und diskursiven Essay handelt, sondern um einen literarisch-poetischen Text, der sich von anderen Texten des Autors nur dadurch unterscheidet, daß er im Spiegel erschienen ist, und nicht zwischen zwei Buchdeckeln. Man hat den Bocksgesang als Leitartikel mißverstanden. Dieses Mißverständnis war insofern produktiv, als es eine höchst spannende Debatte ausgelöst hat. Maar übt seine Kritik, wie übrigens die meisten Sprachkritiker, aus der Perspektive eines Reinheitsgebots, das die Vermischung der Sphären verbietet, also die Vermischung des Kultischen mit dem Technischen, des Poetischen mit dem Begrifflichen. Genau das aber ist das Ziel von Strauß: die produktive Verbindung technisch-naturwissenschaftlichen Wissens mit mythischer Erkenntnis. Ob ihm das immer gelingt, ist gar nicht die Frage, und ich würde auch nicht jeden Satz von Botho Strauß gegen Michael Maar verteidigen wollen. Ich finde es allerdings unproduktiv und allzu preiswert, die Sprache und die Metaphorik zu tadeln, als sei ihr Autor der Schüler aus der letzten Bank, zugleich aber den Skandal seiner Botschaft einfach zu übergehen.

Der Streit über den literarischen Wert eines Textes ist fast immer auch ein Streit über seine Botschaft. Wir reden jetzt natürlich nur über literarisch anspruchsvolle Werke, nicht über das weite Feld der Trivialliteratur oder des Kitsches, wo von sprachlichem Straucheln schon deshalb keine Rede sein kann, weil die Höhe, von der herab man straucheln und stürzen könnte, gar nicht erreicht und meist nicht einmal angezielt ist. Zwar kann man auch das Sagbare unsäglich ausdrücken, und das ist, nimmt man den Querschnitt eines mittleren Zeitungskioskes, fast der Normalfall, aber der ist nicht interessant. Interessant ist der Zusammenhang des Unsäglichen mit dem Unsagbaren, und damit komme ich zu meinem zweiten Beispiel, und das ist Adalbert Stifter.

Daß Stifter ein Meister des Unsäglichen sei, ist wohl der stille Verdacht vieler Nichtleser dieses ebenso großen wie befremdlichen Schriftstellers, aber ausgesprochen hat diesen Verdacht am schärfsten Arno Schmidt - in seinem Dialog-Essay „Der sanfte Unmensch - Einhundert Jahre Nachsommer“, geschrieben 1957. Arno Schmidt nennt Stifters Roman die „Magna Charta des Eskapismus“, er rügte „die pleonastische Plattheit der Sprache“ und „das barbarische Gestammel der gemästeten Nebensätze“. Ich will den beißenden Spott, den Arno Schmidt über Stifter und den Nachsommer ausgießt, hier nicht wiederholen. Sein Essay ist polemisch und amüsant, und er hat in vielen Dingen recht, wenn auch anders recht, als er selber dachte. Es ist wahr: Von Handlung in gewöhnlichem Sinn kann in diesem fast achthundert Seiten starken Roman keine Rede sein. Auch trifft es zu, daß der Held der Geschichte, Heinrich Drendorf, ein Ausbund an Tugendhaftigkeit und Leidenschaftslosigkeit ist. Und es stimmt, daß der Roman auf erstaunliche Weise die politische und soziale Situation der Zeit ignoriert. Und schließlich ist auch die Sprache des Nachsommers auffällig - um das mindeste zu sagen.

Die merkwürdige Kunst des Romans besteht darin, alles, was sich zu einem Ereignis oder einer Handlung entwickeln könnte, in eine ereignis- und handlungslose Ruhe münden zu lassen. Leitmotivisch kehren die Jahreszeiten wieder, der Winter, den Heinrich Drendorf in der Stadt verbringt, das Frühjahr, wo er hinaus in die Berge zieht, der Sommer, der ihn pünktlich zur Zeit der Rosenblüte auf den Asperhof bringt, wo er den alten Risach trifft und später die geliebte Natalie. Stifter versucht nicht im geringsten, das Gleichmaß der Wiederkehr abwechslungsreich zu gestalten. Im Gegenteil, er betont es bis zum Überdruß. Auch der Rhythmus der Gepflogenheiten, die ritualisierten Besuche, Gespräche, Spaziergänge - all das wird bis ins Detail immer von neuem wiederholt. „Der Tag verging ungefähr wie der vorige, und so verflossen nach und nach mehrere“, heißt es einmal, und einige Seiten später lesen wir: „Nach dieser Unterbrechung gingen die Tage auf dem Rosenhause dahin, wie sie seit der Ankunft der Frauen dahingegangen waren“, und wenig später findet sich der typische Satz: „Die Gespräche waren wie gewöhnlich“, und dann heißt es: „Man wiederholte vielleicht oft gesagte Worte, man zeigte manches, das man schon oft gesehen hatte, und machte sich auf Dinge aufmerksam, die man ohnehin kannte.“

Stifter geht es keineswegs darum, etwas Neues oder Aufregendes mitzuteilen. Das immer Gleiche betont er penetrant, mit Sorgfalt vermeidet er das Besondere, das Auffällige, und er gibt sich große Mühe, gerade das, was auf der Hand liegt, das Selbstverständliche, das Gemeinplätzige, das Gewöhnliche immer wieder mit genau denselben Worten zu erzählen. Das ist so auffällig, daß es zweifellos Methode hat, Produkt eines sehr präzisen und eigenartigen Kunstwillens ist, und nicht Unfähigkeit, wie Arno Schmidt unterstellt. Liest man die Briefe Stifters, dann sieht man, daß er durchaus leidenschaftlicher Empfindungen und einer lebendigen Sprache fähig war. Die Sprache des Nachsommers ist hölzern, langweilig, umständlich, weil es darauf ankommt, jede unnötige Bewegung zu vermeiden. Die todesähnliche Ruhe, auf die der Roman zielt, kehrt in seiner Sprache wieder. So erklärt sich, daß Stifter dieselbe Kanzleisprache, deren er sich als Schulrat in seinen Berichten an das Ministerium bedient, auch im „Nachsommer“ verwendet. Wenn ein Gewitter beschrieben werden soll, sagt Stifter: „An dem Himmel, dessen Dämmerung heute viel früher gekommen war, hatte sich eine Veränderung eingefunden.“ Die Form des Satzes dementiert seinen Inhalt. Oder Heinrich Drendorf sieht am Glasdach des Gewächshauses, „daß hier kein Herabtropfen vorhanden sei.“

Bis in die kleinste Zelle der Sprache hinein geht das Bewegungsverbot, und dadurch gewinnt die Landschaft des Romans eine kristalline Struktur. Das Leben ist erstarrt. Das Rad der Zeit, dessen Lauf niemand zu stoppen vermag - hier stottert und ruckt es und scheint auf einmal stillzustehen, wie die Speichen einer Kutsche im schnellen Vorwärtslauf manchmal die Illusion erzeugen, das Rad halte inne und laufe rückwärts. Und daraus resultiert die ungeheure Spannung zwischen der Oberfläche und dem, was darunterliegt, die Spannung zwischen der Ruhe, die scheinbar herrscht, und der Unruhe, die natürlich da ist und an wenigen Stellen heftig und tragisch zum Vorschein kommt.

Da ist einerseits die Lebensgeschichte des alten Risach, seine unglückliche Liebe, die Versuchung des Selbstmords. Da ist andererseits die nie direkt angesprochene, immer aber spürbare politische Realität der Monarchie, die ja selber ein Muster der Bewegungslosigkeit war und der von dem Erdbeben der achtundvierziger Revolution ärgste Gefahr drohte. Der Stillstand den Stifter literarisch formulierte, war politisch. Die März-Revolution, auf die er ursprünglich seine Hoffnungen gesetzt, von der er eine Lockerung des politischen Drucks und der Zensur erwartet hatte, enttäuschte ihn tief. Weniger, weil sie als Revolution scheiterte, sondern weil er sah, daß bedrohliche politische Energien freigesetzt wurden, die in Gefahr standen, Österreich aus den Angeln zu heben und jene „zentrifugale Bewegung“ zu verstärken, die der Archivdirektor und Dramatiker Franz Grillparzer, Stifters Freund, so sehr fürchtete.

Aus allem folgt die soziale Handlungshemmung, die Wolf Lepenies in seinem Buch Melancholie und Gesellschaft beschrieben hat; es folgt, weil jede Bewegung falsch ist, die Bewegungslosigkeit; es folgt, weil kein realer Handlungsspielraum mehr existiert, die zeitlupenhafte Verlangsamung und die sprachliche Vernichtung von Handlung; es folgt, weil es keine Zukunft gibt, der zum Scheitern verurteilte Versuch, die Gegenwart als Gegenwart der Vergangenheit unendlich zu machen, sie in einem Trockengefriervorgang zu konservieren. Darin besteht das schlechterdings Unsagbare, und nicht selten wird es sprachlich unsäglich. Etwas tropft herab - das wäre schon zuviel der Bewegung. Stattdessen: „Es ist kein Herabtropfen vorhanden.“ Mir kam ein Gedanke - das wäre schon zu rasch und zu direkt gesagt. Stattdessen: „Ein eigentümlicher Gedanken kam mir in das Haupt.“

Darüber kann man sich amüsieren, wie Arno Schmidt es tut, man kann dieses Straucheln als Ausdruck einer Verschrobenheit und Verranntheit betrachten. Aber derjenige, der in diesen Nachsommer hineingeht, wird in dem seltsam gefilterten Licht des Buchs die zartesten und blassesten Farben wahrnehmen, filigrane Menschen mit den keuschesten Gedanken; er wird sehen, „welch ein Sommer hätte sein können, wenn einer gewesen wäre“, wie Stifter in einem Brief an seinen Verleger schreibt. Und er wird die Utopie der Entsagung begreifen, die der alte Risach als die eigene Lebensdevise mit folgender Trias umschreibt: „Ergebung, Vertrauen, Warten“. Zugleich aber wird der Leser spüren, wie die verzweifelte Anspannung Stifters, eine um jeden Preis heile Gegenwelt zu entwerfen, den Roman durchzittert wie die Vorahnung einer unaufhaltsamen Katastrophe; er wird Zeuge, wie unter der sorgsam ausgepinselten Idylle das Unheil lauert: das Unheil der modernen Beschleunigung, der Verwerfung aller Maßstäbe, des Umsturzes aller Verhältnisse.

Nietzsche muß das empfunden haben, als er schrieb: „Wenn man von Goethes Schriften absieht, was bleibt eigentlich von der deutschen Prosaliteratur übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden? Lichtenbergs Aphorismen, das erste Buch von Jung-Stillings Lebensgeschichte, Adalbert Stifters Nachsommer und Gottfried Kellers Leute von Seldwyla.“

Wer aber den Nachsommer mit dem raschen Schritt des modernen Lesers durcheilen will, der erfährt, daß sich Stifters Sprache wie mit Kletten an ihn hängt, daß sie ihm das fürchterliche Maß ihres Ritardando zäh und nachhaltig aufzwingt und daß sie ihn, wenn er nicht vorher flieht, hineinholt in jenes Reich des Unsäglichen und Unsagbaren, dem dieser seltsame Heilige, dieser Adalbert Stifter nie mehr entkam, bis er sich dann selber umbrachte.

Nein, Der Nachsommer ist kein durchaus angenehmes Buch, aber er ist für mich ein Paradebeispiel jener Literatur, die das Unsagbare zu sagen versucht und von der ich eingangs sprach, ein Beispiel jener Literatur, die man nicht folgenlos liest. Für sie gilt, was Robert Musil einmal beobachtet hat. Nur ganz schlechte Romane, so bemerkte er 1926, könne er rasch und bis ans Ende lesen. Und dann sagt er: „Wenn ein Buch aber wirklich eine Dichtung ist, kommt man selten über die Hälfte; mit der Länge des Gelesenen wächst in steigenden Potenzen ein bis heute unaufgeklärter Widerstand. Es ist nicht anders, als ob die Pforte, durch die ein Buch eintreten soll, sich krampfhaft gereizt fühlte und eng verschließen würde.“ Ich weiß nicht, ob Robert Musil hier die Rezeption seines Mannes ohne Eigenschaften vorausgeahnt hat, dessen erster Band vier Jahre nach dieser Notiz erschien. Es ist aber unzweifelhaft, daß seine Beobachtung für einen der größten und zugleich ungelesensten Romane dieses Jahrhunderts gilt, nämlich für den Fluß ohne Ufer von Hans Henny Jahnn. Daß ich auf Jahnn zu sprechen komme, werden manche unter Ihnen vielleicht befürchtet haben, aber ich fühle mich dadurch legitimiert, daß schließlich er es war, der diese Akademie gegründet hat. Außerdem aber ist Jahnn ein Musterfall für meine These, und er ist, das sage ich mit Blick auf die Uhr und ihre freundliche Geduld, mein drittes und letztes Beispiel.

Der Orgelbauer, Sektengründer, Hormonforscher und Musikverleger Hans Henny Jahnn hatte zum Schreiben und zur Literatur ein ambivalentes Verhältnis. Mehrmals hat er selber darauf hingewiesen. Im Deutschunterricht habe er versagt. „Ich war der schlechteste Schüler. Ich beherrschte keine der leichten Regeln der Syntax.“ Durch die harte Arbeit des Schreibens habe er, so sagt er, „die deutsche Sprache soweit in die Hand bekommen, daß ich sie als Ausdruck für die gewundene Art meines Denkens und Empfindens verwenden konnte. (...) So kämpfe ich unablässig heimlich mit den Worten der Übereinkunft, ohne jemals der Überlegene zu werden. Es hilft mir nichts, daß ich in meinem Leben viele tausend Seiten geschrieben habe. Die Mühe wächst mit der Geläufigkeit etwas auszusagen.“

Auf der Kehrseite dieser negativen Selbststilisierung aber wird der Anspruch auf Größe sichtbar. Beifällig zitiert Jahnn die Bemerkung Lessings, daß nur die Wahrheit dem Stil echten Glanz verleihe, daß die Wahrheit ohne Stotterei und Posse nicht auskomme. Jahnn findet es falsch, „von der Dichtkunst das Geschliffene, Präzise, pfiffige Unverbindlichkeit zu verlangen, nicht aber das Notwendige“, und er schreibt: „Man hat sich merkwürdigerweise seit jeher der Tatsache widersetzt, daß es kein gültiges Werk der Kunst gibt, das nicht ästhetische Mängel aufzuweisen hätte; es ist, wenn es nicht lügt, mit dem Hauch der wirklichen Wirklichkeit beschmutzt.“

Die Frage lautet natürlich, was der Begriff „gültiges Werk“ bedeuten soll, denn sicherlich gibt es literarische Werke, die in ästhetischer Reinheit erstrahlen. Die aber findet Jahnn unangemessen, denn die Dichtkunst, so sagt er, habe die Wahl zwischen Wirklichkeit und Lieblichkeit. Zur Wirklichkeit gehört die simple Erkenntnis, daß der Mensch Teil der Natur ist. Jahnn aber versteht das ganz wörtlich und radikal. Der Mensch ist nicht über das Tier erhaben. Beiden gleich ist die Empfindung des Schmerzes, und das Leben ist ein universaler und permanenter Schmerz - mit dem Unterschied freilich, daß die Tiere den Schmerz ohnmächtig erdulden, während der Mensch umsichtig und planvoll Schmerz zufügt: sich selber und seinesgleichen, den Tieren und der gesamten Natur. Schlachthof und Krieg sind die beiden Seiten eines unbegreiflichen Willens zur Lebensvernichtung.

Der Roman Fluß ohne Ufer beginnt mit einem Verbrechen. Der Leichtmatrose Alfred Tutein ermordet Ellena, die Verlobte Gustavs. Er stößt ihr das Knie in den Mund und erdrosselt sie. Den Leichnam versteckt er in den Laderäumen des Schiffes. Aus Furcht, der Verwesungsgeruch könnte zur Aufdeckung der Untat führen, übergießt er die Leiche mit Holzteer. Im Text heißt es: „Über das Antlitz Teer. Über die Brüste Teer. In den unordentlich bekleideten, aufgedunsenen Schoß Teer. Er behing die Wehrlose mit den groben Fetzen, zog ihr einen weiten Mehlsack über den Oberkörper. Und entleerte den Rest der Kanne über das hingestauchte Bündel aus Sacktuch, Papier und Fleisch.“ Die Tat hat kein Motiv. Jahnn schreibt: „Alfred Tutein sagte mit erstickter Stimme, alle Schuld sei plötzlich. Sie eile den frevelhaften Entschlüssen voraus. Gedanken, das sei Traum. Wie kriechende Schnecken. Die handelnden Hände hinterließen das Sichtbare. Er brach verstört ab.“ Nach dem Untergang des Schiffes finden die Überlebenden Rettung an Bord eines Frachters. Dort gesteht Tutein sein Verbrechen dem Verlobten Ellenas. In der „Niederschrift“ erinnert sich Gustav. „Ich preßte meine Lippen auf seinen willenlosen Mund. Ich spürte das warme fade Fleisch, das sich staunend meinem Kuß öffnete. Ich roch den Angstschweiß des Mörders. Ich taumelte vor Glück.“

In solchen Sätzen haben wir Jahnns Sprache, die immer wieder das Mißfallen, den Zorn seiner Gegner erregt: diese simple Syntax, die in schweren Hauptsätzen daherkommt und sich zu endlosen Parataxen türmt und manchmal zu grandiosen und komischen Konklusionen führt wie: „Es ist, wie es ist, und es ist fürchterlich“. Hier haben wir die gewaltigen und gewalttätigen Metaphern, die das Dunkel eher verstärken, so wie ein fernes Licht die Nacht noch sichtbarer macht, und die dann gipfeln können in einem jener Bilder, die zum Anlaß feministischer Abwehr Jahnns geworden sind: „Weib ist Weib. Sie alle haben Brüste. Sie alle haben die Gleitbahn, auf der wir ausrutschen.“ Natürlich ist der Satz für jede Sprachkritik ein gefundenes Fressen.

Ist Hans Henny Jahnn ein Schriftsteller, der gut schreibt? Sie erinnern sich vielleicht eines seinerzeit berühmten Buches, nämlich der stilkritischen Untersuchung von Karlheinz Deschner Kitsch, Konvention und Kunst, erschienen 1957, wo Deschner Vergleiche zwischen Autoren wie Hermann Hesse, Robert Musil, Ernst Jünger, Hermann Broch und eben Hans Henny Jahnn anstellt und dabei zu dem damals aufsehenerregenden Schluß kommt, daß der berühmte Hesse ein ziemlich schwacher Autor und der unbekannte Jahnn ein großer Künstler sei. Deschner demonstriert das an den in der Tat wunderbaren Landschaftsbeschreibungen Jahnns, und wunderbar sind sie, weil sie von einer großen, einer liebenden und zugleich verzweifelnden Kenntnis und Erkenntnis der Natur erfüllt sind. Denn Jahnn hat, im Unterschied zu der manchmal naiven Naturseligkeit mancher Ökologen, begriffen, daß ein Zurück zur Natur kein Heil bringt, denn das Gesetz der Natur ist das Fressen und Gefressenwerden.

Diese Grausamkeit, dieser „Schöpfungsfehler“, wie Jahnn ihn nannte, hat ihn immer gequält. 1947 notiert er, angesichts der Begegnung mit einem Jungen, dem ein Bein durch Bombensplitter fortgerissen worden war: „Eine sittliche Ordnung läßt sich aus den Wirkungen einer Explosion nicht ableiten. Ich rechne das jämmerliche Quaken eines Frosches im Magen einer Schlange, den diese, ihre Kiefer verzerrend, lebend hinuntergewürgt hat, nicht zu den Täuschungen meiner Sinne. Auch nicht den Gesang eines angstlosen Deliriums höre ich heraus - das Lallen inmitten schmerzloser Euphorie. Wohl kann es sein, daß der Tod selbst das stärkste Narkotikum ist, das allem Geschöpf beschieden wird; aber der Todeskampf, der Geruch des Angstschweißes - das alles sind Zeichen des unabstellbaren Chaos.“

Auch in dieser Hinsicht ist der Mensch Teil der Natur, und die Natur ist das schlechthin Unbegreifliche. Es dennoch zu begreifen und das Dunkel zu durchdringen - diese Anstrengung erfüllt Jahnns gesamtes Werk bis zum Zerreißen. Der Fluß ohne Ufer ist der 2400 Seiten umfassende Versuch, die Ermordung Ellenas und den Hereinbruch des Bösen zu verstehen. Jahnn findet sich damit nicht ab, er hat sich niemals damit abgefunden, aber er weiß, daß die Berufung auf „Moral“ nicht hilft. Statt dessen versucht er, auf das unmittelbare Gegebene zurückzugehen. Er verweigert Sublimation. Der Trieb, die Gier, die Aggression sind unmittelbar. Der Mensch ist Körper zuerst, und dann vielleicht Geist. In Jahnns Werk sind alle Konflikte körperliche Konflikte, alle Erkenntnisse körperliche Erkenntnisse. Das geht sehr weit: Die Wunde, das Loch im Leib, bedeutet die Öffnung des Individuums, des Mannes für die Welt. Daß Erkenntnis Verletzung sei, hat niemand so radikal verstanden wie Jahnn. Das Unsagbare und das Unsägliche: Hier ist es ein und dasselbe.

Rettung verspricht allein die Musik. Die Symphonie, um deren Vollendung der Komponist Gustav Anias Horn ringt, trägt den Titel Das Unausweichliche. Ihre Anfänge hat Horn bei seinen Wanderungen über die Klippen der norwegischen Fjorde gefunden, in abgerissenen Birkenrinden, deren feines Engramm auf der Rückseite eine natürliche Schrift enthält, die er in Notenschrift übersetzt: ein anderes Lied von der Erde, eine Nachbildung des Schöpfungsgesetzes. Aber der Roman ist nicht nur die Geschichte eines Komponisten. Darin gleicht er übrigens dem etwa zur selben Zeit geschriebenen Doktor Faustus von Thomas Mann, und wichtig ist, daß die beiden Autoren voneinander nicht gewußt haben, daß sie an einem ähnlichen Projekt sitzen. Jahnns Roman Fluß ohne Ufer ist selber ein symphonisches Werk, es gehorcht musikalischen Gesetzen mehr als literarischen.

All das hat natürlich Auswirkung auf die Sprache. Bei Jahnn ist sie selten bloß Erläuterung, sie ist selten souverän in dem Sinn, daß das Ungeheure ihres Gegenstands geheuer würde. In den wenigsten Kunstwerken sind Sprache und Inhalt deckungsgleich. Nicht selten, und gerade in den scheinbar gelungen Fällen, so etwa bei Thomas Mann, geht die Sprache über ihren Gegenstand hinaus, ist überreich, überdeterminiert und neigt zur Verdeckung und Verdickung des Eigentlichen. Bei Jahnn verhält es sich umgekehrt: Seine Sprache bleibt knapp unterhalb des Erkenntnisanspruchs, so daß die Unerreichbarkeit, die Unbegreiflichkeit des Angezielten bewußt wird. Daß Gedanken kriechende Schnecken seien, würde simple Sprachkritik nicht durchgehen lassen. Mir aber kommt vor, als wäre diese bizarre Bild das einzige, das annähernd imstande ist, Tuteins Tat, nein, nicht plausibel zu machen, denn es gibt keine Plausibilität, sondern überhaupt erst zur Sprache zu bringen. Es gibt Inhalte, die nicht Form werden können.

Jahnns Merkmal ist die Erschöpfung der Sprache im doppelten Sinn: als höchste Ausprägung und als Ermattung - als Steigerung hinein in die genaueste Vollkommenheit und als ein Versagen. Von Nietzsche stammt der Satz: „Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler Form nennen, als die Sache selbst empfindet. Damit freilich gehört man in eine verkehrte Welt.“ Diese verkehrte Welt ist für mich das Spannende an Literatur, die Beobachtung nämlich, daß in großen Werken etwas Neues und Gewaltiges hervorbricht, das auch die Erscheinung seltsamer, berückender Schönheit annehmen kann, das in jedem Fall aber die schulmäßige Unterscheidung zwischen Form und Inhalt sprengt und sich gerade im scheinbaren Scheitern und Straucheln äußert.

Die kritischen Zuhörer unter Ihnen werden bemerkt haben, daß ich dabei bin, mein Thema zu verfehlen. Denn der Obertitel dieser Reihe lautet ja „Möglichkeiten deutschsprachiger Dichtung am Ende des 20. Jahrhunderts“, und es läßt sich nur mit Mühe behaupten, Jahnn sei ein Dichter am Ende dieses Jahrhunderts, und Stifter ist es schon gar nicht. Gibt es außer Botho Strauß noch jemanden? Es gibt in der Tat Peter Handke, und wenn Sie seinen Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht kennen, dann werden Sie ahnen, daß meine These vom latenten Scheitern großer Werke auch auf ihn paßt.

Daß Handke in gewisser Hinsicht gescheitert sei, ist deshalb keine originelle Feststellung, weil von diesem Scheitern eben in der Niemandsbucht anhaltend die Rede ist. Es geht um den Versuch, endlich das große, erzählerische Werk in Angriff zu nehmen, das nicht nur die Leser von Handke erwarten, sondern auch Handke von sich selber. Aber der fiktive Autor des Romans - es handelt sich um Gregor Keuschnigg, dem wir schon in der Stunde der wahren Empfindung begegnet sind - wehrt sich dagegen, bloß ein „Conferencier“ oder ein „Lesefutterknecht“ zu sein. Er bestreitet das „vermeintliche Gesetz, daß das Erzählen, das buchlange, ohne die Katastrophen nicht auskommen kann.“ Und er sagt: „Manchmal kommt mir vor, das Erzählen habe sich verbraucht, oder es sei etwas faul daran, und nicht nur an dem meinen. Etwas wie ein Grundwebstoff sei mit dem Jahrtausenden fadenscheinig geworden und halte nicht mehr, zumindest nicht für den großen Zusammenhang, es sei denn, es handle sich um einen Krieg, eine Irrfahrt, einen Untergang.“ Statt dessen schwebt ihm ein „erzählerisches Gebet“ vor, das ihm die „Neue Welt“ aufschließt, das Erzählen in einem einzigen Satz.

Und Peter Handke sucht das Walten des göttlichen Gesetzes oder des Schöpfungsgesetzes, so wie es Stifter auf seine Weise als das „sanfte Gesetz“ formuliert hat und Hans Henny Jahnn auf andere Weise in der Botschaft der Birkenrinde. Man kann das unsäglich finden, aber das Merkwürdige ist: Aus der Suche nach einem großen Roman entsteht ein großer Roman.

Die Niemandsbucht ist also schon wieder der Aufenthaltsort eines seltsamen Heiligen, und wenn wir von einigen sprachlichen Verschrobenheiten absehen, so ist der Roman weniger von einem sprachlichen als von einem literarischen Straucheln erfaßt. Gerade das macht ihn in meinen Augen spannend, wenn auch nicht spannend auf eine Weise, die an Michael Crichton oder Stephen King denken ließe, sondern derart, daß einem das Buch, so wie Stifter und Strauß und Jahnn, den eigenen Rhythmus aufprägt, so daß man eine Weile sich wehrt, dann aber sich ergibt und dadurch, wie bei jeder gewaltigen Lektüre, beschenkt wird.

Wenn ich nun darüber nachdenke, welche anderen Autoren mir einfielen, die einerseits groß sind im Sinn meiner These, anderseits der „deutschsprachigen Dichtung am Ende des 20. Jahrhunderts“ angehören, so werde ich verlegen, und das liegt natürlich an mir. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß es sich bei Günter Grass in gewisser Hinsicht um einen großen Autor handelt, und dies umso eher, als er Mitglied dieser Akademie ist. Aber ich gestehe freimütig, daß mich sein Straucheln oder Nichtstraucheln nicht übermäßig beschäftigt. Solche Dinge sind immer auch Fragen des subjektiven Geschmacks.

Erlauben Sie deshalb, daß ich zum Abschluß einen kurzen Blick auf zwei amerikanische Autoren lenke. Einerseits auf Philip Roth und seinen Roman Sabbath‘s Theatre, den ich gewaltig finde, und dies vor allem deshalb, weil er mit einer berserkerhaften Wut ins Reich des Pornographischen und Obszönen eindringt, ohne je seinen Kunstanspruch aufzugeben. Der alt gewordene Jude und Puppenspieler und Pornograph, Held des Romans, nimmt Abschied vom Leben, er sieht den Tod in vielerlei Gestalt, als den Tod geliebter Menschen, als Hinfälligkeit des eigenen Körpers und als schreckliche Phantasmagorie. Abschied vom Leben ist ganz wörtlich zu verstehen: Es ist auch ein Abschied von der schieren sexuellen Lust. Das Risiko aber, das Roth in Kauf nimmt, das Risiko, das zum Straucheln, aber nicht zum Absturz führt, ist der pornographische Exzess, den zu schildern ihn ein rabiater Zorn antreibt, bis hin zur Niederschrift eines grotesken Telefonsex--Dialogs - ein komisches, ein großes, ein böses Buch.

Mein zweites Beispiel ist Cormac MacCarthys Roman Blood Meridian, der kürzlich unter dem Titel Die Abendröte im Westen auf deutsch erschienen ist: eine Orgie aus Blut und Tod, eine Welt, in der Moral ein Witz und der Mensch eine Bestie ist. Der Roman spielt in der mexikanischen Wüste, wo tags die Sonne brennt und nachts von einem kalten Sternenhimmel die Gleichgültigkeit des Universums herabstrahlt. Ich will die grandiose Melodie des Romans nicht schildern, sondern nur andeuten, wo er strauchelt: In der scheinbar endlosen Wiederholung der Massaker, in der kreisförmigen Wiederkehr der fürchterlichen Abläufe, im Versiegen der Handlung, wo auf einmal alles ein Stillstand und ein Standbild wird, tödlich erstarrt, und die Sprache nur noch ein düsteres Raunen oder kaltes Registrieren ist. Aber dadurch gelingt es MacCarthy, ins Auge des Taifuns einzudringen, dorthin, wo alles scheinbar ruhig ist, umgeben vom Toben des Orkans. Von dort aus hat er den genauesten Blick auf die Kräfte einer entfesselten Natur - und zu der gehört die schrankenlose, titanische Selbstverwirklichung des Individuums, dem die amerikanische Verfassung „Pursuit of Happiness“ verspricht.

Ich breche hier ab, weil sich meine Zeit dem Ende nähert, will aber noch einen letzten Gedanken anfügen. Auffällig ist nämlich, daß alle bislang erwähnten Autoren eine Gemeinsamkeit haben: Sie sind vollkommen unironisch. Sie geben dem Leser nicht die geringste Chance, eine Distanz zu wahren, die noch vom erzählten Raum gedeckt würde. Ihre Devise lautet, friß Vogel oder stirb, also Mitgehen oder Wegbleiben. Der Leser ist genötigt, dem Autor dicht auf den Fersen zu folgen. Eine Reflexivität, die als abfedernder Mechanismus funktionierte und den Leser halbwegs sicher über die Schlaglöcher der Geschichte hinwegtrüge, existiert nicht. Üblicherweise gelten ironische Formen als Ausweis gelungenen Schreibens. Ich bin mir dessen nicht so sicher. Ironie oder Nicht-Ironie - das sind lediglich verschiedene Wege. Der ironische Autor nämlich - und das gilt natürlich für Thomas Mann, dem Jahnn deshalb „Pfiffigkeit“ vorgehalten hat - erlaubt eine reflexive Distanz, die dem Leser (und dem Text) über die kritischen Stellen hinweghilft. Das funktioniert bei Thomas Mann etwa so, daß der Erzähler dazu neigt, das Bündnis mit dem Leser zu suchen, um gemeinsam mit ihm die Unsäglichkeiten und Peinlichkeiten einer Romanfigur freundlich-spöttisch oder ironisch besorgt zu betrachten. Wobei die Frage, was denn nun in einem bestimmten Zusammenhang unsäglich sei, ganz vom Grad der Nähe abhängt, den der Text seinem Leser aufnötigt. Die ironische Distanz verlagert der Unsäglichkeitspunkt in die erzählte Figur. Wo diese Distanz nicht möglich ist, wandert der Unsäglichkeitspunkt direkt in den Kopf des Lesers. Der hat nur die Wahl, die Peinlichkeit als produktive Veränderung seiner selbst zu ertragen oder aber sie dem Autor anzulasten.

Kaum etwas Unsäglicheres ist ja vorstellbar als der Versuch von Gustav Anias Horn, den Leichnam des geliebten Freundes einzubalsamieren. Der Vorgang wäre erträglicher, gäbe es den Hauch einer Andeutung. daß der Autor selber die Sache befremdlich fände oder mit ironischem Blick sähe. Aber Ironie steht Jahnn völlig fern. Von Adalbert Stifter darf man annehmen, daß er überhaupt nicht gewußt hat, was Ironie ist. Auch Peter Handke und Botho Strauß sind gewissermaßen unfähig zur Ironie, und wer das als einen Einwand empfindet, den weise ich darauf hin, daß Ironie heutzutage zur intellektuellen Grundausstattung gehört und daß inzwischen jeder Talkmaster unentwegt ironisch ist.

Die unironische Literatur, die das Risiko des Scheiterns nicht selbstreflexiv abfedert, gewinnt dadurch die Kraft, uns zu verwirren und zu entführen. Wobei Entführung, wie wir wissen, dem Entführten in der Regel mißfällt. Im Gegensatz aber zur realen Entführung verlangt die literarische als Lösegeld nur unsere Aufmerksamkeit, sonst nichts. Ich gebe allerdings zu, daß manch einer lieber Geld als Zeit entrichtet. Wir aber, die wir mit unserer Aufmerksamkeit bezahlt haben, werden in eine schönere Freiheit entlassen.

Adorno hat einmal gesagt, die großen Kunstwerke seien jene, die an ihren fragwürdigsten Stellen Glück hätten. Was heißt Glück haben? Ist es das Glück, das der Reiter auf seinem Ritt über den gefrorenen Bodensee hatte? Für das vollkommene, überirdische Gelingen fällt einem ja immer nur Mozart ein und dann lange nichts, und es hat vielleicht etwas zu bedeuten, daß literarische Beispiele außerhalb der Lyrik, die ja mit der Musik verwandt ist, schwer zu finden sind, jedenfalls nicht auf der Hand liegen. Weil Literatur immer ein Medium benutzt, das zugleich das alltäglichste und gewöhnlichste ist, unsere Sprache nämlich, ist sie in gewisser Weise immer von der Wirklichkeit beschmutzt und allen Zweideutigkeiten, Mißhelligkeiten und Unsicherheiten der Sprache ausgesetzt. Sie ist das in noch größerem Maß als wir Alltagsredner und Alltagsschreiber, die wir uns auf ein Gemeinsames stillschweigend berufen können, es sei denn, es käme einer wie Till Eulenspiegel. Der Dichter aber, der dieses Gemeinsame in Frage stellt und vielleicht sogar, kraft seiner Erfahrung, in Frage stellen muß, bedient sich zwar im Prinzip derselben Sprache mit ihrem grammatischen Gerüst, aber er entlockt ihr andere und fremde Töne, bei denen es nicht immer von vorneherein klar ist, ob einer ein Lied singt oder im dunklen Wald pfeift.

Es gibt ein merkwürdiges, ein wunderbares Prosastück von Kafka, Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse. Es läßt sich lesen als eine Parabel über die Rolle des Dichters in unserer Zeit, und es beginnt so: „Unsere Sängerin heißt Josefine. Wer sie nicht gehört hat, kennt nicht die Macht des Gesanges. Es gibt niemanden, den ihr Gesang nicht fortreißt, was umso höher zu bewerten ist, als unser Geschlecht im ganzen die Musik nicht liebt.“ Im Fortgang des Textes aber, und das ist typisch für Kafka, werden diesen strahlenden Sätze des Anfangs immer mehr in Zweifel gezogen, aufgefächert, hin und her gewendet. Es ist ja gar nicht sicher, ob Josefines Gesang in irgendeiner Weise außerordentlich ist. Handelt es sich überhaupt um einen Gesang? Ist es nicht eher ein Pfeifen, das sie von sich gibt, umgeben von einem atemlos lauschenden und glücklichen Auditorium? Ja, es ist eigentlich nur ein Pfeifen, und genau betrachtet, ist es nicht eindrucksvoller als das, was viele andere auch pfeifen - es ist sogar eher schwächer als das übliche Pfeifen. Woher aber die unglaubliche Wirkung, die sie offenkundig auf das Volk der Mäuse ausübt? Was ist an diesem Gesang?

Der Erzähler, allem Anschein nach ebenfalls ein Mäuserich, sagt: „Etwas von der armen kurzen Kindheit ist darin, etwas von verlorenem, nie wieder aufzufindendem Glück, aber auch etwas vom tätigen heutigen Leben ist darin, von seiner kleinen, unbegreiflichen und dennoch bestehenden und nicht zu ertötenden Munterkeit. Und dies alles ist wahrhaftig nicht mit großen Tönen gesagt, sondern leicht, flüsternd, vertraulich, manchmal ein wenig heiser. Natürlich ist es ein Pfeifen. Wie denn nicht? Pfeifen ist die Sprache unseres Volkes, nur pfeift mancher sein Leben lang und weiß es nicht, hier aber ist das Pfeifen freigemacht von den Fesseln des täglichen Lebens und befreit auch uns für eine kurze Weile.“



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