Home - Club der toten Dichter - andere Sprachen - Philip Roth: Nemesis (2011)


 

 
Ulrich Greiner

Gott ist böse

Bewegend, radikal und meisterhaft: "Nemesis" von Philip Roth

Newark im Sommer 1944. Es ist Ferienzeit, träge schleppt sich die Stadt durch drückend heiße Tage. Wer es sich leisten kann, ist ans Meer gezogen oder in die Berge. Bucky Cantor, der junge Sportlehrer, sammelt die übrig gebliebenen Jungens, trainiert mit ihnen Baseball und bringt ihnen, wenn die Sonne allzu sehr brennt, im Schatten das Schachspiel bei.

Alles scheint ganz friedlich in diesem Sommer, aber etwas ist anders. Es herrscht Krieg – genau genommen zwei. Der eine ist weit weg, aber Freunde von Bucky sind dabei. Sie gehören zu den Landetruppen in der Normandie. Auch er, ein wahrer Athlet, wäre gerne dabei, aber er ist extrem kurzsichtig und wurde ausgemustert. So kümmert er sich halt um die Kinder, damit sie nicht rumhängen. Unmerklich gerät er in den anderen, weit unheimlicheren Krieg: Polio bricht aus. Eines Morgens fehlt sein Lieblingsschüler Alan. Drei Tage später ist er tot. Mr. Cantor, wie er von allen respektvoll genannt wird, ist erschüttert. Er geht zu den Eltern, um sein Beileid zu bekunden. Der Vater sagt:

„Man macht immer alles richtig, immer und immer und immer, man versucht ein vernünftiger Mensch zu sein, ein hilfsbereiter Mensch – und dann das! Wo ist da der Sinn in diesem Leben?“ – „Es scheint keinen zu geben“, sagte Mr. Cantor. – „Wo ist da die Gerechtigekeit?“, fragte der arme Mann. – „Ich weiß es nicht, Mr. Michaels.“ – „Warum treffen solche Tragödien immer Menschen, die es am wenigsten verdient haben?“ – „Auch das weiß ich nicht“, sagte Mr. Cantor. – „Ein Junge, sie trifft einen Jungen. Es ist so grausam!“ Mr. Michaels schlug mit der flachen Hand auf die Sessellehne. „So sinnlos! Eine schreckliche Krankheit fällt vom Himmel, und ein Mensch stirbt über Nacht. Ein Kind!“ Er konnte nicht weitersprechen; er begann zu weinen, stockend und unbeholfen, wie es Männer tun, die sich für stark halten.

So beginnt der neue Roman „Nemesis“ von Philip Roth. Nemesis ist die Göttin der Rache, aber niemand in dem jüdischen Viertel, wo die Epidemie ein Kind nach dem andern hinwegrafft, weiß, wofür und in wessen Namen diese furchtbare Rache geübt wird. Eine Bande antisemitisch gestimmter junger Italiener taucht am Sportplatz auf. Sie wollen „ein bisschen Kinderlähmung verbreiten“, sagen sie höhnisch, und spucken in Richtung der Jungens. Dem unerschrockenen Bucky Cantor gelingt es, sie zu vertreiben, aber der Friede ist vorbei.

Verzweifelte Mütter beschuldigen den Sportlehrer, ihre Kinder nicht beschützt zu haben. Die Würstchenbude, wo Alan zuletzt ein Hot Dog verzehrte, wird von allen gemieden. Der stadtbekannte, bis dahin wohlgelittene Idiot wird zum Sündenbock und gilt als Überträger der Krankheit. Immer schneller breitet sie sich aus, und Cantor begreift, dass er an der Front steht. Ohne Eltern aufgewachsen hat ihn der Großvater zu einem furchtlosen, verantwortungsbewussten jungen Mann erzogen:

„Auf seinem kompakten Körper saß ein ziemlich großer, scharf konturierter Kopf, der ausschließlich aus schrägen Linien und Flächen zu bestehen schien: ausgeprägte Wangenknochen, ein wuchtiges Kinn und eine lange, gerade Nase mit markantem, kräftigem Rücken, die seinem Profil die Schärfe einer auf eine Münze geprägten Silhouette verlieh. Die Stimme war überraschend hoch, doch das tat der Kraft seiner Erscheinung keinen Abbruch. Es war das robuste, wie aus Eisen gegossene und auffallend kühne Gesicht eines starken jungen Mannes, auf den Verlass war.“

Kurz gesagt: Bucky ist der klassische Held. Dass er scheitert, ist die klassische Tragödie. Er scheitert erstens an seinem Feind. Der ist nicht allein bösartig, sondern vor allem unsichtbar. Er vereitelt jede Gegenwehr. Und zweitens scheitert Bucky an einer ebenfalls klassischen Versuchung, an der Liebe. Denn Bucky liebt Marcia, und sie liebt ihn. Philip Roth, den wir ja auch als obsessiven Erotomanen kennen, beschreibt diese erste und ganz unschuldige Liebe mit einer geradezu keuschen Inbrunst, die zu Herzen geht.

Die Lehrerin Marcia arbeitet in einem Sommerlager, von wo ein Betreuer eingezogen wurde. Sie bittet ihren Bucky, die freie Stelle einzunehmen. Sie fürchtet um seine Gesundheit, sie will ihn bei sich haben. Bucky, obwohl er sich nach ihr sehnt, lehnt zunächst ab. Die Jungens allein zu lassen, wäre Desertion. Und doch: In einer Übersprungshandlung, die ihm selber ganz unklar bleibt, sagt er schließlich zu und reist in die Berge. Dort erlebt er das Paradies, nicht allein wegen der heiteren Atmosphäre unter den sportbegeisterten Jugendlichen, sondern vor allem wegen des vollendeten Glücks mit seiner Geliebten. Und dort erlebt er die Hölle. Denn er hat (jedenfalls glaubt er das, es ist aber keineswegs sicher) das Virus eingeschleppt. Das Lager wird geschlossen, er selber erkrankt.

Bis hierhin etwa folgt man der Geschichte mit einer Faszination, als ginge es um schiere, unwiderlegliche Fakten. Keine Sekunde kommt man auf die Idee, es handele sich um einen Roman, also um Fiktion. Denn die Erzählung kommt daher mit der harten, schmucklosen Präzision eines Berichts, der die Glaubwürdigkeit unmittelbarer Zeugenschaft beanspruchen darf. Natürlich ist das ein literarischer Trick, der allerdings im Dienst einer höheren Wahrheit steht und sie vollendet repräsentiert. Nach und nach fragen wir uns nämlich: Wer eigentlich erzählt hier?

Es ist einer der Schüler. Auch er erkrankte an der Kinderlähmung, überlebte sie als Krüppel und wurde Architekt, spezialisiert auf Einrichtungen für Behinderte. Dieser Arnie Mesnikoff begegnet zufällig seinem ehemaligen, nunmehr ebenfalls verkrüppelten Sportlehrer im Jahr 1971 (und jetzt verstehen wir, warum immer von „Mr. Cantor“ die Rede ist), er lässt sich dessen Geschichte erzählen, er erzählt sie uns.

Keineswegs aber wirkt der langsam vorbereitete Perspektivenwechsel ernüchternd. Im Gegenteil: Die Geschichte steuert jetzt auf ihre eigentlichen Höhepunkt zu. Denn Bucky Cantor (das erfahren wir aus Arnies Bericht) hat das, was er als Fahnenflucht dunkel empfand, niemals verwunden, und er hat, als die Krankheit ihn traf, seiner Marcia unbeugsam und stolz entsagt, obwohl sie, eine wahrhaft Liebende, ihm trotz seiner Behinderung die Treue hielt.

Wieder einmal fragt man sich, wie Philip Roth das macht. Dem fast 78 Jahre alten amerikanischen Romancier scheint ja nun überhaupt nichts mehr zu misslingen, und jedes neue Werk seiner rastlosen Produktivität überrascht uns von neuem durch seine Meisterschaft. Keineswegs beschränkt er sich auf das große Thema der sexuellen Begierde, des Altwerdens und des Abschieds aus dieser Welt – wie zuletzt in den Romanen „Die Demütigung“ (2010) oder „Das sterbende Tier“ (2003). Denn seinem anderen großen Thema, der wechselvollen Geschichte der Juden in Amerika, die auch seine eigene ist, widmet er sich immer wieder mit eher noch wachsendem Zorn, so in dem grandiosen Roman „Empörung“ (2009), so auch hier. Und diesmal steht die Frage nach Gott, die in den vergangenen Büchern fern am Horizont aufleuchtete, im Mittelpunkt.

Denn Cantor, wirklich kein Intellektueller und schon gar kein Theologe, kann die Frage nach der Gerechtigkeit, die ihm der verzweifelte Vater des jungen Allan gestellt hat, nicht vergessen. Er ist nichts besonders religiös, aber doch aufgewachsen in einer jüdischen Tradition, die das Vorhandensein Gottes als selbstverständlich annimmt.

Unmittelbar nach der glücklichen Liebesnacht mit Marcia (auf einer Insel im See nahe beim Lager) überfällt ihn der Gedanke an die gestorbenen Jungens. Er empfindet ein Versagen. Marcia umarmt ihn und ruft: „Sooft es ging, bin ich hierher gefahren und habe gebetet, dass du gesund bleibst.“ Er entgegnet: „Glaubst du wirklich, dass Gott deine Gebete erhört hat?“ Sie antwortet: „Ich kann es eigentlich nicht wissen. Aber du bist hier, oder?“ Und er: „Das beweist gar nichts. Warum hat Gott nicht die Gebete von Alan Michaels’ Eltern erhört? Sie müssen auch gebetet haben. Herbie Steinmarks Eltern müssen auch gebetet haben. Es sind gute Menschen. Gute Juden. Warum hat Gott nicht eingegriffen und ihre Jungen gerettet?“ Marcia: „Ich weiß es nicht.“ Er: „Ich auch nicht. Ich weiß nicht, wieso Gott die Kinderlähmung überhaupt erschaffen hat. Was wollte er damit beweisen?“

Hinter dieser Frage steht die andere, schrecklichere Frage aus dem anderen, schrecklicheren Krieg: Warum hat Gott Auschwitz zugelassen? Warum lässt er zu, dass Menschen böse sind? Weil er ihnen die Freiheit gab, lautet die probate Antwort. Aber warum gibt es diese tödliche Epidemie, für die kein noch so böser Mensch etwas kann? Das ist keine Kinderfrage. Und anders als ein Atheist, anders als Hiob zieht Bucky Cantor den Schluss: Es gibt Gott, aber Gott ist böse. An dieser Erkenntnis zerbricht er.

In dem Bericht des angenehm mittelmäßigen Arnie erscheint uns der Held Bucky Cantor als Opfer einer unbegreiflichen Tragödie, die niemanden, der diesen finsteren, wahrhaft großartigen Roman liest, unberührt lässt. Auch wenn es allmählich langweilig wird, Philip Roth zu loben: Er ist der Größte. Was ja nun inzwischen jeder weiß, mit Ausnahme offenbar der Schwedischen Akademie.

Die Übersetzung wirkt leider nicht selten unbeholfen. Dirk van Gunsteren schreibt: „Wir können sehr strenge Richter über uns selbst sein, auch wenn es in keinster Weise angebracht ist.“ Das Wort kann man nicht steigern (kein – keiner – am keinsten?), und der Ausdruck „in keinster Weise“ ist schlechtes Umgangsdeutsch, das unter Umständen den Sprecher charakterisieren könnte. Hier aber spricht ein gebildeter Mann, ein Arzt: „We can be severe judges of ourselves when it is in no way warranted.“ Besser wäre: „Manchmal gehen wir streng mit uns ins Gericht, auch wenn es gar nicht notwendig ist.“

Wenn die Tante über den verstorbenen Alan sagt, er war „the apple of everyone’s eye“, lesen wir: „Alle haben ihn geliebt“, was ziemlich schwach klingt; und wenn Mr. Cantor darauf antwortet: „I know that, I see that“, heißt es: „Das weiß ich, das sehe ich“, was man im Deutschen nicht sagt. Ein kleiner Junge, den der Schmerz über den toten Kameraden überwältigt, sagt nicht: „Alle meine Freunde werden Krüppel sein.“ (All my friends are going to be cripples.) Und als Cantor fragt, wann die Beerdigung stattfinde, antwortet Mr. Michaels, dem das Reden offenkundig schwer fällt: „Tomorrow at ten. Schley Street Synagogue. Alan was the rabbi’s Hebrew school favorite.“ Wir lesen: „Morgen um zehn. Der Gottesdienst ist in der Synagoge in der Schley Street. Im Hebräischunterricht war Alan der Lieblingsschüler des Rabbis.“ – Der Roman ist mehr oder weniger korrekt übesetzt, aber Dirk van Gunsteren wirkt uninspiriert, er trifft den Ton nicht.

Philip Roth: Nemesis
Roman. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2011; 218 Seiten

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