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Ulrich Greiner

Schorschis Hafenbasar

Wider die Überschätzung des Schriftstellers Georg Klein. Eine Polemik aus Anlass seines neuen Romans »Die Sonne scheint uns«

Es ist klar, dass in einem Aquarium voller Guppys - anmutige Fischlein mit schönem Schweif - ein finsterer Wels auffallen muss. Man sieht sofort: Das ist ein Fisch, mit dem man rechnen sollte. Aber allzu großen Respekt verdient er nicht, er ist ja auch nur ein kleiner Fisch und weniger gefährlich, als er aussieht.

Die deutsche Gegenwartsliteratur gleicht einem Aquarium, wo unter Einsatz aller Kräfte (der Verleger, Buchhändler, Kritiker) und unter Verwendung des besten Futters (Preise, Stipendien, Fonds) die schönsten Zierfische gedeihen. Der Stolz aller Beteiligten lässt jedoch zuweilen vergessen, dass es Delfine und Haie gibt.

Der erstaunliche Erfolg des Schriftstellers Georg Klein, den die Kritik seit seinem ersten Auftritt mit dem Roman Libidissi (1998) als »großen und bedeutenden Erzähler« feiert und sich an Jean Paul, E.T.A. Hoffmann und selbstverständlich Kafka erinnert fühlt, gleicht dem Aufsehen, das ein Wels unter Guppys bewirkt, und dieses Aufsehen wurde denn auch rasch mit dem Brüder-Grimm-Preis (1999) und dem Ingeborg-Bachmann-Preis (2000) honoriert.

Man muss aber kein besonderer Kenner der Ozeane sein, um in dieser Wahrnehmung ein freundliches Missverständnis zu erblicken. Georg Klein, Jahrgang 1953 und vergleichsweise spät zu Ehren gekommen, besitzt in der Tat aparte Fähigkeiten, gemessen an dem, was sonst so gedruckt wird. Aber gerade dieses Aparte erscheint mir als widrig und abgeschmackt, geradezu als Verrat an der Sache der Literatur. Der Verräter - das macht den Fall interessant - muss, um ein solcher sein zu können, das Handwerk beherrschen, damit er sich Eintritt in jenen »totgesagten Park« der Dichtung verschaffe, von dem George spricht. Ohne Zweifel beherrscht Klein das Handwerk.

Betrachten wir seinen neuen Roman Die Sonne scheint uns. Schauplatz ist das aufgelassene Hafengebiet einer deutschen Großstadt; dort ein leeres Bürogebäude, im Volksmund der »steife Schnösel«. In der ehemaligen Cafeteria warten vier Männer und eine Frau auf den Boss, der es liebt, sich »Onkelchen Gabor« zu nennen. Er wird ihnen sagen, zu welchem Zweck er sie angeheuert hat. Die furchtlosen fünf vertreiben sich die Zeit, indem sie sich aus dem Kühlschrank versorgen und, da sie ihre Namen nicht preisgeben dürfen, einander nach den Getränken benennen: Bitter Lemon, Funny, Light, Vita und Still (so heißt die Frau, weil sie stilles Wasser trinkt).
Mit spitzfindiger Munterkeit erfindet Klein immer neue Labyrinthe

Wir erleben nun, wie die Damen und Herren Bitter Lemon, Funny, Light, Vita und Still den steifen Schnösel nach der »Sonne« durchsuchen, einer vorzeitlichen Antiquität religiösen oder magischen Charakters - ich habe das nicht ganz verstanden. Jedenfalls geraten sie dabei in immer schmutzigere und ekelhaftere Umstände; es gibt in dem Haus kein Wasser und fast kein Licht, nur finstere Treppen, modrige Schächte und stinkende Kellerräume, worin sich natürlich eine Leiche befindet, die schon seit längerem vor sich hin suppt. Bei dieser Expedition kommen zwei von den fünfen ums Leben (der eine wird ermordet), und zwei von ihnen kopulieren aufs erbärmlichste.

Von der Kritik ist begeistert die Raffinesse vermerkt worden, die unter anderem darin liege, dass der steife Schnösel zehn Stockwerke habe und der Roman zehn Kapitel. Es kommt ein elftes hinzu, genannt 11b, weil das Gebäude einen Aufsatz für die Maschinerie des Lifts besitzt, und damit hat es folgende Bewandtnis: Oberhalb der Kabine hat sich Onkelchen Gabor, der mächtige Pate des Viertels, häuslich eingerichtet, zusammen mit seinem Marder Felix, der ihm getreulich von allem berichtet, was die fünfe so treiben. An Schauplätzen und Personen gibt es noch einen Apotheker, der in der SS war und in seinem Hinterzimmer Pornofilme dreht. Seinem Hauptdarsteller Vita verhilft er durch Injektionen zu Höchstleistungen, die am Ende dazu führen, dass er Blut ejakuliert.

Ich gestehe frei, dass ich solche Sachen nicht mag. Auch halte ich mich - sowohl wirklich als auch lesend - ungern in unterirdischen Gängen und Verliesen auf, zumal dann nicht, wenn sie in jeder Hinsicht schmuddelig, eklig, stinkig, schmierig sind. In der Darstellung solcher Lokalitäten, das muss man zugeben, ist Klein ein Meister.

Es ist allerdings wahr, dass die Kritik von Schauplätzen allein zu nichts führt. Ein zentrales Kapitel von Edgar Allan Poes großem Roman Arthur Gordon Pym spielt in einem nachtschwarzen Laderaum, wo der Held vor Durst und Wahnsinn fast umkommt. Auch sind die stickigen Dachkammern und Maulwurfsgänge Kafkas keine gemütlichen Orte. Dennoch habe ich mich immer wieder dorthin begeben, weil es sich um Grenzbezirke handelt, die auf etwas Höheres verweisen: bei Kafka auf einen philosophisch-theologischen Diskurs über Schuld, Gesetz und Gerechtigkeit; bei Poe auf die äußerste Anspannung des Denkens im höchsten Augenblick des Schreckens - und so auf dessen Überwindung. Der widrige Ort bei Kafka und Poe hat transzendentalen Charakter, und bei beiden hat man den Eindruck, sie beträten ihn mit einer gewissen Scheu.

All das finde ich bei Georg Klein nicht. Obgleich seine Romane im toten Gelände einer verbrannten städtisch-industriellen Zivilisation spielen, in verkommenen, licht- und luftlosen Räumlichkeiten (Natur, in welcher Form auch immer, gibt es nicht), scheint sich der Autor auf monströs gut gelaunte Weise darin wohlzufühlen. Die spitzfindige Munterkeit, mit der er sich immer neue Labyrinthe ausdenkt, erinnert mich an Enid Blyton. Sie verzichtet zwar auf das dezidiert Eklige (abgesehen vom Dosenpfirsich, den die Kinder immerzu verzehren), aber ihre Obsession für Höhlen, Gänge, Keller und Verliese versetzt den Leser in einen wohligen Schauder. Und beide, Klein wie Blyton, sind mit ihren klaustrophobischen Fantasien auf selbstgefällige Weise zufrieden, es gibt keine Transzendenz.

Dieser Mangel wird bei Klein durch die Sprache unerträglich. Seine Sprache, die in der Tat, um es neutral zu sagen, ungewöhnlich ist, hat es den Kritikern besonders angetan. Sie zeigt eine Vorliebe für die freundlich-ironische Umschreibung, für die zierlich-ausgefallene Wendung und für die zärtliche Verkleinerungsform: »Onkelchen Gabor«, der seine »liebe Nichte« und »ihre freifrisierten Öhrchen« beobachtet, den »guten Light«, »das Kerlchen« (»putzig stolz«), das »lernfreudige Knäblein« und »Neffchen«, der vom »Brötchengeber« faselt und von den »Hausmittelchen von Mutter Chemie«.

Das ist nur eine kleine Auswahl der unzähligen Diminutivformen, die den leicht durchschaubaren Effekt haben, das Monströse durch die scheinbar arglose Verkleinerung noch monströser erscheinen zu lassen. Dazu gehört die Manie, simplen Gegenständen ein Fühlen und Denken zuzusprechen: »Der Turm spürt sein heißes Hinschauen und lässt es sich gefallen.« Oder: »Die dritte Etage ist nur normal hoch, und ihre relative Weite mag sich nicht mit der bedrückenden Nähe der Decke vertragen.« Ich verstehe nicht, wie man in solch getüftelten Gespreiztheiten große Sprachkunst erkennen kann. Blicken wir auf die Szene, da der Mann und die Frau, vom kruden Bedürfnis getrieben, einen heimlichen Ort suchen: »Er stemmt die Schultern gegen die Tür, so lange, bis sich deren Angeln mit einem spöttischen Räuspern drehen, als wüsste die stabile Tür aus langer Erfahrung, zu welchen Zweck die Menschenpaare so ungestüm, als gälte es, die letzte Möglichkeit zu nutzen, in Innenräume streben, die von Türen wohlbehütet sind.« Als es dann endlich so weit ist, lesen wir: »Sacht malmend wühlen sich Bitters Sockenspitzen in den Sand, während Stills feinbestrumpfte Fersen, auf und ab schabend, ein helles Zirpen erzeugen.«

Die vollkommene Banalität des Vorgangs wird durch eine erlesene Wortwahl künstlich aufgeschmückt. Auf der Rückseite droht schiere Plattheit. Jemand holt sich die Brille: »Das gute Stück leistet mir den gewohnten Dienst.« Jemand fährt mit dem Lift lieber nach unten als nach oben: »Weit mehr als die bescheidene Beschleunigung der Auffahrt genieße ich den unfreien Fall des sacht gebremsten Sinkens.« Kann man es geschwollener sagen: »Unfreier Fall des sacht gebremsten Sinkens«?
Ein Ton, der irgendwo zwischen Kasino und Gartenlaube liegt

Der Einwand, es handele sich um Rollenprosa, verschlägt nicht. Man findet derlei bei Klein überall. Im Prosaband Von den Deutschen kriegt einer die Tür nicht auf: »Mein Klinkendrücken jedoch verschaffte mir keinen Zutritt.« Er kommt zu spät und wird nervös: »Der Verdacht, als Spätling unterwegs zu sein, steigerte sich zur unerträglichen Gewissheit.« Er holt seinen Zimmerschlüssel, »dessen Plastikanhänger mir meine Zimmernummer verriet«. Wenn sogar Plastikanhänger Verrat üben, gerät natürlich die Welt aus den Fugen. Aber das ist mir dann auch egal.

Was ist das bloß für eine Sprache? » Wie geplant erreichten wir Thüringen, das uns frisch verschneit empfing. Drei Tage später ging es hinüber nach Bayern.« So pflegt ein Schriftführer vom Ausflug seines Gesangsvereins zu erzählen. So redete einstmals der Herbergsvater, der Turnlehrer, der Feldwebel. Und so redet Georg Klein sogar dann, wenn er sich öffentlich (Berliner Zeitung) äußert: »Zur Zeit lohnt es sich, aufzumerken, wenn deutsche Männer ihren Geschlechts- und Zeitgenossen Antiamerikanismus vorwerfen.«

Es lohnt sich, aufzumerken, wenn deutsche Männer wie Georg Klein einen Ton anschlagen, der irgendwo zwischen Kasino und Gartenlaube liegt. Aber nehmen wir an, derlei Sprachgebrauch sei nur ein Spiel, ein böses oder listiges, und sehen wir, wo es hinführt. Zunächst in eine verschwiemelte, verschwitzte Erotik. Kleins Helden, überwiegend Männer, neigen zum Fetischismus. »Der schwarze Zwickel ihres Slips separiert feste, muskulöse Oberschenkel« (Die Sonne scheint uns). Oder: »Obwohl dir der Strumpfhosengummi tief ins bloße Bäuchlein schneidet ...« (Von den Deutschen). Oder: »Weitaus schwieriger wäre es gewesen, der vielleicht noch den Sitz ihrer Strumpfhose regulierenden Heimleiterin vor der Tür der Klokabine mit der nötigen Sachbezogenheit entgegenzutreten« (ebenda).
Wer durch die Kloake flaniert, gerät in den deutschen Urschlamm

Übergehen wir gnädig den Liebhaber weiblichen Urins oder den Freund gebrauchter Schlüpfer sowie den Impotenten mit abstoßender Hautkrankheit, schauen wir lieber, wohin die Herren geraten, wenn sie durch die Kloake flanieren. Sie geraten, wie der Kritiker der SZ lobend, gleichwohl trefflich bemerkt hat, in den deutschen Urschlamm. Ein deutsches Ehepaar (Von den Deutschen) fällt während eines Bummels durch Chicago drei Schwarzen in die Hände, die sie aber keineswegs niederschlagen, sondern in einen Kramladen bringen, wo ein Deutscher Nazi-Devotionalien verhökert. Während man sich gemütlich zu einer Tasse Tee niederlässt, angeboten in einem von Albert Speer entworfenen Service, erläutert der Gastgeber sein großes Projekt: endlich eine korrekte englische Übersetzung von Hitlers Mein Kampf. Die Frau ist begeistert. Man diskutiert bis in die Nacht hinein »ausgewählte Beispiele der Übertragung deutscher Prosarhythmen« anhand Hitlers.

Im neuen Roman ist es der steife Schnösel, der auf den Ruinen eines von einem jüdischen Kaufmann betriebenen Kinos steht, und im Verlauf der Untergrundrecherchen tritt allerlei Fäulnis zutage, Arisierungsgewinnler, braune Seilschaften, Urschlamm eben. Über den Apotheker und früheren SS-Mann heißt es: »Der alte Weißkittel, einst schwarzer Krieger eines großen Krieges…«

In all diesen Fällen verhält sich der Text völlig unklar zu seinem Inhalt. Weder betreibt er Ideologiekritik, noch verfällt er bloßer Identifikation. Was soll das? Ironie? Man komme mir bitte nicht damit. Ironisch ist heute jeder Frisör, Ironie gibt's bei Aldi im Doppelpack. Ich glaube etwas anderes: dass Georg Klein einfach nur die Reize abschöpft, die Reize des politisch und ästhetisch Perversen, wie sie sich am schönsten in der Verbindung von Nazi und Porno zeigen. Und er nutzt, weil das Bekennerische uncool wäre, die Versatzstücke des Horror- und des Detektivromans, die Schablonen aus dem Jargon des Herrenmenschen und des altdeutschen Spießers, mischt das alles durcheinander, verfremdet es, baut schrille Kulissen, legt falsche Fährten, macht listige Anspielungen, gründelt im Morast und hält sich raus.

Deshalb spreche ich von Verrat an der Sache der Literatur, weil Literatur im emphatischen Sinn (und anders sollte man nicht von ihr reden) etwas sein muss, was unser dürftiges, bedürftiges Leben durchdringt und befragt, erhellt und übersteigt. Das ist letztlich ein moralischer Anspruch, der sich allerdings, im gelungenen Fall, als ästhetischer Anspruch verwirklicht. Der ästhetische Anspruch von Kleins Texten reduziert sich auf das Prinzip von Harrys Hafenbasar, den es vor Jahren in St. Pauli gab - ein labyrinthischer Laden mit tausend Hinterzimmern, vollgestopft mit dem abstrusesten Zeug, und es roch ganz fürchterlich. Für den neugierigen und kompetenten Besucher war das eine Fundgrube, er konnte aus dem Krimskrams eine ganze Welt herausdeuten, aber es blieb doch nur Krimskrams.

Zur großen Tradition einer Ästhetik des Hässlichen und der Verzweiflung gehört Georg Klein ganz offensichtlich nicht. Schriftsteller wie Baudelaire, Bataille, Céline oder, um neuere zu nennen, wie Hubert Selby und Wolfgang Hilbig sind getrieben von Trauer, Erbitterung, Hass. Stattdessen findet man bei Klein eine schlaumeierische Süffisanz und Herabsetzungslust, eine altkluge Bescheidwisserei, die sich nirgendwo zu einer klaren, heißen Emotion aufschwingt.

Bleibt die Frage, weshalb die Kritik auf Schorschis Hafenbasar hereinfällt. Anlässlich des weithin gepriesenen Romans Barbar Rosa (2001) zitierte die FAZ beifällig folgende Passage: »Bertini setzte sich auf die Bank mir gegenüber, und während alle in meiner Reihe sich vergeblich mühten, an seinem riesigen Riechorgan vorbeizuschauen, begann er seine breiten, von feuerroten Pusteln bedeckten Nasenflügel zu betasten, versuchte schließlich, den prallsten Pickel mit den Daumennägeln auszudrücken. Obwohl die U-Bahn lautstark rüttelnd durch eine Kurve fuhr, platzte der Pustel hörbar auf. Sofort nach diesem pfloppenden Geräusch floss grünliche Flüssigkeit über Bertinis Nasenspitze.«

Der Witz (das alles ist ja unglaublich witzig, wie überhaupt Georg Klein der Jockey einer galoppierenden Witzigkeit zu sein scheint) liegt darin, dass Bertini ein Künstler und Nase wie Eiter ein maskenbildnerisches Produkt sind. Der Kritiker der FAZ bemerkt hierzu: »In dieser kleinen Szene verbirgt sich die romantische Theorie von der ästhetischen Wirkung des Ekels, dessen unmittelbarer Reiz so stark ist, dass er dem Betrachter nicht erlaubt, zwischen Sein und Schein zu unterscheiden. (…) Kleins Roman ist eine postmodernistische Gespenstergeschichte in der romantischen Tradition der fantastischen Erzählung und der Künstlernovelle.«

Ja dann, wenn sich das so verhält… Wenn der Kritiker zu lange Guppys anguckt, dann hält er jeden Wels für einen großen Fisch.

Georg Klein: Die Sonne scheint uns
Roman; Rowohlt Verlag, Reinbek 2004; 218 Seiten

Erschienen in der ZEIT am 26.8.2004


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