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Ulrich Greiner

Laudatio auf Dieter Wellershoff
Ernst-Robert-Curtius-Preis Bonn, 23. Juni 2005

Sehr geehrter, lieber Herr Wellershoff,
sehr geehrte Damen und Herren,

meine Aufgabe ist leicht, denn ich soll Dieter Wellershoff loben. Das ist einfach, denn er ist einer der produktivsten und scharfsinnigsten Schriftsteller, die wir haben. Seine Romane und Essays zu lesen, beschert schöne, erschreckende und zugleich erhellende Erfahrungen. Das hat sich ja inzwischen herumgesprochen, glücklicherweise. Sein wunderbarer Roman Der Liebeswunsch, den er, blickt man auf seine unglaublich lange Schaffensperiode, gewissermaßen erst gestern geschrieben hat, dieser Roman ist zum Bestseller geworden – ein später und verdienter Triumph.

Meine Aufgabe ist aber schwer. Es ist nämlich nicht leicht zu sagen, worin das Geheimnis der Prosa von Dieter Wellershoff liegt. Ich will es versuchen, und weil ich meinen schwachen Kräften nicht traue, stütze ich mich auf Lessing, um eine gewisse Flughöhe zu gewinnen. Lessing sagt in seinem zweiten Anti-Goeze: „Es kömmt weniger darauf an, wie wir schreiben, aber viel, wie wir denken.“ Und er fügt hinzu: „Ich kenne keinen blendenden Stil, der seinen Glanz nicht von der Wahrheit entlehnt.“

Lessing behauptet also den zwingenden Zusammenhang von Wahrheit und Schönheit. Wir können einen literarischen Text nicht schön nennen, wenn er nicht zugleich wahr ist. Was aber heißt wahr? Ich bin sicher, dass es Dieter Wellershoff gegenüber erlaubt ist, auf Hans Henny Jahnn zu kommen, jenen großen, aber wie ich zugebe, überaus merkwürdigen und immer noch umstrittenen Schriftsteller. In einem Vortrag aus dem Jahr 1946 wendet er sich gegen das falsche Bedürfnis, „in der Dichtkunst das Schöne, das Geschliffene, das Präzise, pfiffige Unverbindlichkeit zu finden, aber nicht das Notwendige.“ In einem anderen Zusammenhang bezieht sich Jahnn wörtlich auf die zitierte Bemerkung Lessings und gelangt zu der starken These, „dass es kein gültiges Werk der Kunst gibt, das nicht ästhetische Mängel aufzuweisen hätte; es ist, wenn es nicht lügt, mit dem Hauch der wirklichen Wirklichkeit beschmutzt.“

Wir haben es hier mit einer Radikalisierung, einer Zuspitzung der These von Lessing zu tun. Das Kunstwerk ist auf Wahrheit angewiesen, sonst ist es keins. Wahrheit aber kann nur entstehen, wenn sie sich auf Wirklichkeit bezieht. Und die Wirklichkeit, um die es im Kunstwerk geht, ist die Wirklichkeit des Menschen, seine Unzulänglichkeit, Bosheit, Feigheit, sein Verlangen nach Glück und sein Scheitern, sein Bedürfnis nach Liebe, seine Not und Einsamkeit. Das sind die Themen von Dieter Wellershoff. Und weil er diese Wirklichkeit überaus ernst nimmt, ist seine Prosa, um Jahnns Worte zu übernehmen, „mit dem Hauch der wirklichen Wirklichkeit beschmutzt.“

Das Wort „beschmutzt“ muss hier in unserem Zusammenhang ziemlich deplatziert klingen. Ich meine damit, dass unsere Lebenswirklichkeit, die wir nicht selten als undurchschaubar, als bedrohlich empfinden, in den Texten Dieter Wellershoffs eine zentrale Rolle spielt, und nicht nur das: Sie affiziert die Gestalt seiner Prosa. Um das zu verdeutlichen, muss ich auf die etwas aparte Wendung von Jahnn zurückkommen, die Ihnen vielleicht aufgefallen ist: „die pfiffige Unverbindlichkeit“. Das ist gegen Jahnns Lieblingsfeind, gegen Thomas Mann gewendet. Ich will nicht den großen Thomas Mann verkleinern, was ich auch gar nicht könnte, sondern nur darauf hinweisen, dass Thomas Manns Sprache, denken Sie nur an Joseph und seine Brüder, sich nicht selten in einer ornamentalen Gebärde gefällt. Sie geht dann über ihren Gegenstand hinaus, sie wird überreich, überdeterminiert und neigt zur Verdeckung und Verdickung des Eigentlichen. Es gibt nicht wenige für bedeutend gehaltene Schriftsteller – und einige sind ja trotzdem bedeutend –, deren Sprache sich ständig nach vorne drängt, als ob sie wegen ihrer köstlichen Formulierungen bewundert werden wollte.

Vielleicht ist dies eines der Geheimnisse von Dieter Wellershoff: Seine Sprache ist in höchstem Maße angemessen, und das heißt, dass sie ganz im Dienst dessen steht, was erzählt und gesagt werden soll. Erinnern Sie sich bitte an seinen großartigen Essayband Der verstörte Eros, eine Kultur- und Literaturgeschichte des Begehrens, ein gewaltiges Panorama jenes schönen, zuweilen bizarren und zerstörerischen Wahns, den wir Liebe nennen und der die seltsamsten Erscheinungsformen annimmt: Sehnsucht, Entsagung, Selbstvernichtung, radikale Entgrenzung und radikale Aggression, so wie wir es in den Romanen von Goethe bis Flaubert, von Balzac bis Proust, von Henry Miller bis Elfriede Jelinek und Bret Easton Ellis finden können. Finden allerdings nur, wenn wir uns den geschärften, analytischen Blick von Dieter Wellershoff aneignen. Er nämlich öffnet uns eine Passage durch diese unheilvolle Wildnis menschlicher Leidenschaften.

Sie werden in diesem erstaunlichen Buch keinen Satz finden, der sich mit falschem Glanz umgibt. Wellershoff gehört nicht zu jenen, die den Freund für eine Pointe verraten. Er sucht die Pointe nicht mit jener koketten Absichtlichkeit, die – mir jedenfalls – auch bei großen Autoren zuweilen unangenehm aufstößt. Die Pointe ergibt sich aus der gründlichen, aus der scharfsinnigen Durchdringung eines Problems. Dadurch wird die Sprache gewissermaßen unauffällig, sie begibt sich ganz in den Dienst der Erörterung.

Ich weiß nicht, ob Dieter Wellershoff zur Eitelkeit neigt. Man muss es fast annehmen, weil es eigentlich keinen großen Schriftsteller gibt, der nicht auch eitel wäre. Wellershoff jedoch ist ein in hohem Maß selbstreflexiver Autor. Wo immer sich seine Eitelkeit zeigen mag, in seiner Prosa zeigt sie sich nicht. Ihr fehlt jede Selbstgefälligkeit.

Und daraus, so vermute ich, resultiert das zweite Geheimnis von Wellershoffs Texten. Man kann sich ihrer Überzeugungskraft nicht entziehen, weil sie ausschließlich auf die Kraft des Arguments vertrauen und weil sie eben nicht gleisnerisch und prunkvoll daherkommen. Wir vertrauen uns dieser Prosa gerne an, weil sie uns zu Teilnehmern einer Expedition macht, deren Ergebnis nicht vorab feststeht.

Das ist ungewöhnlicher, als es klingt. Denn der Essayist neigt nicht selten dazu, einer mehr oder weniger aparten These das Material derart zuzuordnen, das sie am Ende halbwegs plausibel erscheint. Ich weiß, wovon ich rede. In meinem Gewerbe, nennen wir es abgekürzt das Feuilleton, kommt derlei ziemlich häufig vor. Vielleicht ist das sogar bis zu einem gewissen Grad erlaubt, denn morgen ist nichts ist älter als die Zeitung von heute. Da mag es unschädlich sein, versuchsweise eine kleine Rakete abzufeuern, auch wenn es sich zumeist eher um einen Luftheuler handelt.

Mit solchen Vorläufigkeiten gibt sich Wellershoff nicht ab. Wozu auch. Die Expeditionen, die er unternimmt, gehen ja zumeist in schwieriges Gelände, etwa wenn er über unser Verhältnis zum Tod nachdenkt, über die Unvollendbarkeit des Realismus oder die ausgrenzende Funktion des Lachens. In dem zuletzt erwähnten Essay übrigens findet sich einer dieser blitzartigen Konklusionen, auf die seine Texte oftmals zulaufen: „Das Lachen der Gruppe ist eine gegenseitige Verstärkung, aber auch eine Drohung an die Nichtlacher.“ Das ist keine Pointe im üblichen Sinn, sondern die aphoristisch-lakonische Verdichtung einer Sachlage, so wie eine elektrische Spannung sich verdichtet und dann entlädt.

Die Expeditionen, zu denen uns Wellershoff mitnimmt, sind ungewöhnlich sorgfältig vorbereitet und ausgerüstet. Er gleicht, um im Bild zu bleiben, ganz unzweifelhaft dem vorausschauend planenden Amundsen und nicht dem überheblich scheiternden Scott. Womit bekanntlich Amundsen den Südpol erreicht hat, und Scott eben nicht. Der Südpol: das ist in unserem Fall die ästhetische Erkenntnis. Wobei wiederum auffällt, dass Wellershoff seine Ausrüstung nicht vorzeigt. Was er gelesen, studiert und gründlich durchdacht hat, philosophische, soziologische und psychologische Texte der grundlegendsten Art, das kann der aufmerksame Leser merken, aber er muss es nicht wissen. Er kann sich der Autorität dieser Texte anvertrauen, wobei ihm zumeist gar nichts anderes übrig bleibt, denn um Wellershoff zu widersprechen, muss man sich gewissermaßen warm anziehen.

Es fällt auf, dass dieser Erkenntnisdrang, der Wellershoffs Schreiben antreibt, in den Essays ebenso zu finden ist wie in seinen literarischen Texten. Betrachten wir nur die Erzählung Das Verschwinden aus dem in Kürze erscheinenden Erzählungsband Das normale Leben. Da wird von einer jungen Frau erzählt, die sich einen kleinen Namen als Lyrikerin gemacht hat und ihr Leben als Übersetzerin fristet. Durch Zufall macht sie die Bekanntschaft eines fernsehberühmten Psychologen und seiner Gattin. Beide geben sich als Bewunderer ihrer Gedichte aus, haben aber in Wahrheit ganz andere Ziele. Die einsame junge Frau erliegt der Verführungskraft dieser Zuwendung, bis sie auf einmal ebenso schmerzhaft wie brutal der Tatsache gewahr wird, dass sie es hier mit einer andere Spezies zu tun hat: mit Menschen ohne Zentrum. Sie sind vollkommen hohl, und müssen, um ihre Daseinsgier befriedigen zu können, andere aussaugen wie Vampire. Diese erzählerische Studie sagt mehr über unsere Zeit als viele wissenschaftliche Abhandlungen. Dass sie glänzend geschrieben ist, muss ich nicht hinzufügen, ich erinnere an Lessings Bemerkung über den Zusammenhang von Stil und Wahrheit.

Im Vergleich mit diesem neuen parasitären Typus, der die Redaktionen und Vorstandsetagen bevölkert, die Parteien und die Agenturen, ein Typus, dem alles vollkommen gleichgültig ist außer dem eigenen Erfolg, im Vergleich dazu erscheint Dieter Wellershoff als ein Mann von geradezu altmodischer Ernsthaftigkeit. Und wenn man die früheren Debatten nachliest, etwa die über den damals neuen Kölner Realismus, dann gewinnt man den Eindruck, in den Sechzigern sei überhaupt viel ernsthafter diskutiert worden. Die Diskutanten vertraten ihre Standpunkte mit Leidenschaft, es ging ihnen um etwas. Die Literatur dieser Tage war erfüllt von Zorn und Widerspruch – denken wir nur an Rolf Dieter Brinkmann, den Wellershoff entdeckt und gefördert hat.

Objektiv gesehen ist die Lage heute kaum weniger ernst. Mit Blick auf die fundamentalistische Bedrohung und auf die alles umwälzende Globalisierung würde man sogar sagen können: Sie ist ernster als damals. Und doch sind unsere Diskussionen heute von einer merkwürdigen Flüchtigkeit und Leichtfertigkeit gezeichnet. Das fällt mir auf, wenn ich Wellershoffs Essays und Interventionen nachlese.

Woher kommt das? Ein Grund liegt sicherlich nahe. Man erkennt ihn, wenn man die eindrucksvollen Innenansichten eines Krieges liest, die unter dem Titel Der Ernstfall 1995 erschienen sind. Da sieht man einen Mann, der durch die Hölle des letzten großen Krieges gegangen ist und als ein anderer daraus hervorkam. Diese Erfahrung gibt seinen Texten ein besonderes Gewicht. Ich für meinen Teil darf froh sein, dass ich dieses Gewicht nicht tragen muss, aber ich sehe zugleich, dass es ihm einen geistigen Vorsprung sichert, den er dann – mir als seinem Leser – uneigennützig weitergibt.

Am Ende seiner Frankfurter Vorlesungen schreibt Wellershoff, es seien „die Fragen von Leben und Tod und ihre latente Gefährlichkeit, die den existenziellen Gehalt von Literatur“ ausmachten. Diese Erkenntnis, von der frühere literarische Epochen selbstverständlich geprägt waren, ist heute in einem Literaturbetrieb, der sich das Anything goes auf die Fahnen geschrieben hat, in Vergessenheit geraten. Um so wichtiger ist es, Wellershoff zu lesen.

Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg sind ja nicht selten, aber die von Wellershoff sind ungewöhnlich, weil sie bei aller Emotion und existenziellen Gefährdung – bis hin zur schieren Todesangst – immer von einer äußersten Klarheit des Gedankens geprägt sind. Es scheint, als wäre für diesen Mann die Kraft der Vernunft der letzte Rettungsanker gewesen, so dass er Zeit seines Lebens daran festgehalten hat. Und davon ist ja sein ganzes Werk bestimmt: Von der tätigen Überzeugung, dass dem Menschen in all seiner Wirrnis die Möglichkeit gegeben ist, sich der Kraft seines Verstandes zu bedienen. Insofern ist Wellershoff ein Mann der Aufklärung. Aber zugleich ist er ein Denker, der die dunkle Seite, die Dialektik der Aufklärung begreift und sie uns in seinen Büchern zugänglich macht.

Dafür hat Dieter Wellerhoff wahrhaft einen Preis verdient. Ich beglückwünsche die Jury des Ernst-Robert-Curtius-Preises zu ihrer Wahl, und ich gratuliere Dieter Wellershoff ganz herzlich.



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