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Eckhard Nordhofen

Vom Vorteil, ein Monotheist zu sein
Christliche Tradition im außermoralischen Sinn

I.
Auf den Sprachphilosophen Ch. W. Morris geht die Unterscheidung dreier Hinsichten zurück, unter denen die Sprache betrachtet werden kann: Syntax, Semantik, Pragmatik. In der Syntax wird die Grammatik, das System der Verknüpfungsregeln oder die Struktur der Sprache verstanden, die Semantik bezeichnet die Inhalte der Begriffe, und in der Pragmatik untersuchen wir, was man mit der Sprache tun kann. Nur hier, in der Pragmatik, ist ein Bezug auf das Sprache generierende und Sprache empfangende Subjekt zwingend. Lenken wir den Blick von dieser Subjektbindung auf das, was wir ohne Semantik und Syntax, also ohne das Material der Wörtersprache handelnd, auf der Symbolebene zeichenhaft mitteilen können, so erweitern wir den Sprachbegriff. Dabei wird nur theoretisch eingeholt, was wir als Sprachbenutzer, indem wir einschlägige Metaphern bildeten, immer schon gewusst haben, indem wir zum Beispiel formulierten: „Ein Blick sagt mehr als tausend Worte“, oder „Dieses Bild sagt mir nichts“, oder „Das hat nichts zu sagen!“, wobei es sich nicht um ein propositionales Wortgebilde handeln muss, sondern um irgend einen Tatbestand.

Schon Ernst Cassirer hat in seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ im Symbolbegriff die Sprachgrenzen erweitert, insofern er die Wörtersprache im engeren Sinn nur als eine von mehreren Möglichkeiten der Symbolbildung verstand. Auch Walter Benjamin hat in seinem „Passagenwerk“ den Versuch gemacht, Geist und Bewusstsein der Stadt Paris, der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“, aus ihrer architektonischen Gestalt, näherhin den glasüberdachten Passagen zu „lesen“. Hans Blumenberg hat in einer umfänglichen Untersuchung der Großmetapher von der „Lesbarkeit der Welt“ diese Spur weiter verfolgt.

Für die Zwecke der folgenden Überlegungen ist es ausreichend, wenn wir das Faktensprechen und das Handlungssprechen unserem theoretischen Besteck hinzufügen können. Was einer sagt, wird dadurch beglaubigt oder dementiert, wie er handelt. Wenn etwa einer keinen seiner Zuhörer zu Wort kommen lässt, aber ohne Punkt und Komma vom herrschaftsfreiem Diskurs redet, unterläuft ihm ein performativer Selbstwiderspruch, demjenigen verwandt, den der Moralist begeht, wenn er Wasser predigt und selbst Wein trinkt. Natürlich müssen Unterschiede beachtet werden. Max Scheler, der auf einen entsprechenden Vorwurf mit dem Hinweis reagierte: „Der Wegweiser muss nicht dorthin gehen, wohin er weist“, hat gewiss Recht. Doch hätte auch er zugeben müssen, dass dieser Zynismus die Normen dementiert, die er im Munde führt. Von einem wirklichen performativen Selbstwiderspruch müsste dann allerdings die Rede sein, wenn ein Prediger oder Redner endlos über rhetorische Kurzweil schwadroniert, etc.

Die Sprache der Tatsachen und der Handlungen kann, ja muss wahrscheinlich, wenn sie denn dem theoretischen Diskurs zugeführt werden soll, in denselben wie in eine Fremdsprache übersetzt werden. Eben dies soll im Folgenden versucht werden. Dabei geht es um das Neue Testament, die dort erzählten Tatsachen und Handlungen und seine Hauptfigur, Jesus von Nazareth. Mustern wir die vier Evangelien durch, also die literarischen Kompositionen, die im Wesentlichen Geschichten über Jesus und von Jesus enthalten, so fällt eine bestimmte Struktur auf, die sich sowohl in den Gleichnissen, Parabeln und Spruchworten (Logien) Jesu selbst findet, wie auch in seinem Handlungssprechen, das uns in den Berichten und Geschichten über ihn vorgestellt wird. Fast immer geht es um ein Schema, um ein Handlungsmuster, eine Üblichkeit, ein Gesetz, eine Vorschrift, die auf charakteristische Weise behandelt wird. Und dieses Schema wird auf charakteristische Weise transzendiert. Das heißt, das Schema wird nicht abgeschafft, es kann im Prinzip und für die Zukunft durchaus weiter in Kraft bleiben. Es wird aber überstiegen und damit für den Augenblick außer Kraft gesetzt.

Dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16) liegt das Tauschprinzip Dienstleistung gegen Geld zugrunde. Der Herr des Weinbergs, der denen, die die Last und Hitze des Tages getragen haben, einen Denar gibt, denen, die zur letzten Stunde eingetroffen waren, aber ebenso viel, verletzt das Prinzip der Tauschgerechtigkeit. In der Logik des Gleichnisses ist klar, dass es nicht darum geht, den Tarif zu ändern, denn die Beschwerde der Ganztagsarbeiter, die auf solche Änderung des Preises hinausliefe, wird ja zurückgewiesen. An die Stelle des Tauschprinzips tritt ein Handeln, das die theologische Tradition als Gnade, also als unverdientes Geschenk charakterisiert. Jesus redet nicht nur kontrafaktisch und schematranszendierend, sein Handeln hat just dieselbe Struktur. Er gibt dem die Ehre, der sie nicht verdient, dem Zöllner Zachäus, und kehrt gerade nicht bei denen ein, die ihrer Frömmigkeit wegen auf die Ehre seines Besuches Anspruch machen könnten (Lk 19,2-9). Um das Schema und sein Transzendieren zu identifizieren, abstrahieren wir im einen Fall aus der Sprachhandlung einer erzählten Geschichte, im anderen Fall aus dem Handlungssprechen eines erzählten Ablaufs. In der in der Bergpredigt knapp aufgerissenen Szene des ungerecht auf die Wange Geschlagenen soll, statt zu reagieren und zurückzuschlagen, wie es das Schema verlangt, auch noch die andere Wange hingehalten werden, in diesem Fall handelt es sich um das aus der Verhaltensforschung bestens bekannte Reiz-Reaktions-Schema (Mt 5,39).

Schemata sind nicht böse, sondern helfen, das Leben zu ordnen. Die Schemata des zwischenmenschlichen Verkehrs stehen im Allgemeinen für das Prinzip der Tauschgerechtigkeit. Die Tauschgerechtigkeit ist aber für Jesus nicht genug. Wer nur die grüßt, die auch ihn grüßen, hat noch nichts verstanden, das tun auch die Heiden (vgl. Mt 5,47). Jesus will also nicht die funktionalistischen Schemata abschaffen, denn er hat nichts gegen das Grüßen, auch nichts dagegen, einen gerechten Lohn zu zahlen oder das Erbe gerecht an seine Söhne zu verteilen, er lehrt vielmehr die Menschen die Handlungs- und Denkmuster aus der göttlichen Perspektive zu betrachten und die Freiheit zu erwerben, ihnen zu folgen oder nicht. Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat (Mk 2,27).

Im Gleichnis vom verlorenen Sohn und barmherzigen Vater steht dem heimgekehrten Sohn nichts mehr zu. Seine Phantasie geht auch allenfalls dahin, so gehalten zu werden wie einer der Knechte seines Vaters. Er weiß, dass er sein Erbe schon vertan hat, und dass er keinerlei Ansprüche stellen kann. Das weiß auch sein Bruder, der andere Sohn, der sich ebenso beschwert und beklagt wie die Arbeiter, die im Weinberggleichnis die Last und Hitze des Tages getragen haben.

In der Tradition des Christentums und seiner für ihn charakteristischen Ethik des Vergebens, das heißt der Übertragung des Gnadenhandelns Gottes auf den zwischenmenschlichen Bereich, ist das Transzendieren der Schemata, das Gnade-vor-Recht-er­gehen-lassen immer gut im Bewusstsein gehalten worden.

Der ältere Bruder, die Ganztagsarbeiter und die frommten Gegner des Zöllners Zachäus haben eines gemeinsam, sie sind die Anwälte der Tauschgerechtigkeit, sie möchten am fundamentalen Schema des menschlichen Verkehrs festhalten, gleich ob dieser Tausch sich nun wie im Weinberggleichnis in der Form Dienstleistung gegen Geld, in der Befolgung eines Gesetzes der gerechten Erbteilung, wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn dargestellt wird oder wie im Beispiel des Zachäus durch die Formel: Zuwendung gegen Wohlverhalten. Offensichtlich ist diese Figur des Schemata-Transzendierens ein, vielleicht sogar das entscheidende Charakteristikum des jesuanischen Handelns und Redens. Das hat natürlich theologische Gründe, die mit dem christlichen Wirklichkeitsverständnis, das auch die Mutterreligion, das Judentum, auszeichnet, zusammenhängen.

Dieses Verständnis der Wirklichkeit überragt den Status quo. Nicht die Welt, wie sie ist, wird umstandslos glorifiziert oder nüchtern gedeutet, sondern die Welt, die erst noch Reich Gottes werden muss. Die visionären und prophetischen Reden von den letzten Dingen, vom neuen Jerusalem und der Wiederkunft Christi am Ende der Bibel, zeigen dies ebenso wie die kontrafaktischen Verhältnisse der Paradiesesgeschichte am Anfang. Hier wird eine leuchtende Folie aufgespannt vor der Wirklichkeit, wie sie ist, als eine erst noch zu entwickelnde, zu verbessernde und dem Willen des Schöpfers erst noch anzunähernde. Dieser Monotheismus ist transgressiv und innovativ, er lässt die Schemata der Gesellschaft nicht, wie sie sind, sondern lehrt mit ihnen umzugehen, sie zu überschreiten und im göttlichen Sinne zu überspringen. „Mit meinem Gott überspringe ich Mauern“ singt der Psalmist (18,30).

Das jüdische und christliche Wirklichkeitsverständnis ist zutiefst kontrafaktisch. Es nimmt die Verhältnisse, wie sie sind, zur Kenntnis, akzeptiert aber nicht die normative Kraft des Faktischen. Das geht bis zur Installation von Paradoxa, die jedesmal, wenn es um das Hereinbrechen göttlicher Wirklichkeit geht, bewusst als Verletzungen der herkömmlichen Wirklichkeitskoordinaten aufgestellt werden. Da steht das Wasser wie eine Mauer rechts und links einer Gasse, durch die die Kinder Israel das Rote Meer durchqueren. Da wird der zweite Hauptsatz der Thermodynamik außer Kraft gesetzt, denn der Dornbusch brennt und verbrennt nicht. Da bekommt die Jungfrau ein Kind, der Löwe liegt bei dem Lamm, und das Verstreichen der Zeit wird negiert, wenn die um den Hausvater versammelte jüdische Familie am Seder-Abend des Pessachfestes den Aufbruch aus dem Sklavenhaus Ägyptens gegenwärtig setzt. Dieselbe Suspendierung der Zeit gilt für die christliche Fortsetzung dieses Seder-Abends, um einen solchen handelt es sich ja beim „letzten Abendmahl“ Jesu, das in der Messe Gegenwart wird, wenn der Priester die Worte spricht: „Das ist mein Leib“. In diesen liturgischen Symbolhandlungen konstituiert sich ein Wirklichkeitsverständnis, das antizyklisch, antikosmisch im buchstäblichen Sinn ist, wenn wir uns an die Bedeutung des griechischen „Kosmos“ erinnern, ein Wort, das wir mehrfach übersetzen müssen mit „Welt“, „Schönheit“, „Ordnung“. Eine Welt, die wohl geordnet und schön ist, kann man im Grunde auch lassen, wie sie ist. Wer aber die Erfahrung des Sklavenhauses macht, die Erfahrung von Schmerz und Leiden in seine Ontologie einbezieht, wird sich in dieser Welt nicht restlos heimisch fühlen. Diese emphatische theologische Deutung des Schemata-Transzendierens hat von den Kirchenvätern bis Ernst Bloch Tradition.

In einem weniger steilen Anlauf können wir zunächst einmal feststellen, dass diese Figur, das Schemata-Transzendieren, nicht nur ein theologisch begründetes Handlungsmuster ist, dass wir in ihr vielmehr ein anthropologisches Proprium treffen, die Fähigkeit der Selbstreferenz und Selbstthematisierung, die wir auch als Reflexion bezeichnen. Wir treten gleichsam einen Schritt zurück, betrachten uns selbst und die Situation die uns umgibt, erkennen den Mechanismus oder das Schema, das in diesem Moment seine Selbstverständlichkeit verliert und stehen vor der Entscheidung, das Angebot des Schemas, das ja kein Schema wäre, wenn es sich nicht bewährt hätte, anzunehmen oder es für diesmal oder sogar auf Dauer außer Kraft zu setzen. Das Schema hilft und schützt, weil es das Nachdenken erspart und erprobte Erfahrung tradiert. Es erleichtert das Leben. Wenn es aber das Leben erschwert und zum lebensfeindlichen Zwang wird, gibt es Anlass zur Reflexion und Revision, und die Reflexion ist der Ort der Freiheit.

Der vorweltliche Gott der Bibel ist das geistige Widerlager, mit dem wir seine Schöpfung, die wir im Ernst nicht verlassen können, auf Distanz bringen. In der Paradiesesgeschichte gibt es eine bezeichnende Szene (Gen 2,19), in der der Herr alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels, die, wie der Mensch selbst, aus Ackerboden geformt waren, ihm insofern gleichgestellt, „dem Menschen zuführt, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen“. Der Mensch ist also nicht wie die Tiere. Er steht neben dem Schöpfer, schaut die Geschöpfe an wie er und darf ihnen Namen geben. Wie so oft in der Bibel finden wir hier die Nacherzählung einer Lehrperformance, die handlungs- und faktensprachliche Inszenierung einer Reflexion. So ist es das Charakteristikum des Menschen, die Wirklichkeit auf Distanz zu bringen, ihr „Namen zu geben“, das heißt sie in seiner reflexiven Sprachwelt zum Thema zu machen.

Diese Distanznahme, das Transzendieren der Schemata, ist im Neuen Testament charakteristisch für die Rede und die Praxis Jesu, mit der er in die Wirklichkeit eingreift. Offensichtlich ist diese Figur des Schemata-Transzendierens ein, vielleicht sogar das entscheidende Charakteristikum des jesuanischen Redens und Handelns.

Warum ist es wichtig, die formale Qualität dieser Figur, ihre Isomorphie mit der Reflexion zu erkennen? Für die Wirkungsgeschichte des Monotheismus, besonders in seiner jesuanischen Verstärkung, gibt es nämlich auch einen gleichsam außermoralischen Strang. Es gibt gute Gründe, diesen, der in der christlichen Predigttradition kaum einmal gesehen worden ist, endlich zur Kenntnis zu nehmen.

Das Wirklichkeitsverständnis von Juden und Christen, so hatten wir gesehen, ist kontrafaktisch. Es lehrt das Abstandhalten vom Ist-Zustand und das Transzendieren der Schemata. Wer dieses Denken und Fühlen sich so verinnerlicht, dass es ihm, wie man sagt, „in Fleisch und Blut übergeht“, also, wem das Schemata-Transzendieren habituell geworden ist, der wird es nicht auf den moralischen und zwischenmenschlichen Bereich beschränken. Das Leben besteht ja nicht nur aus dem Verkehr des Menschen mit seinesgleichen, es besteht, wie wir von Robinson Crusoe lernen, zunächst einmal in der Naturbeherrschung.

Das kontrafaktische Wirklichkeitsverständnis und das innovative, auch theologisch ausgerichtete Handeln hat auch eine technische Seite, die das gute Leben insgesamt, vor allem aber den Bereich der Naturbeherrschung betrifft. Das monotheistische Wirklichkeitsverständnis entwickelt auf diese Weise ein hohes innovatives Potential. Der Christ, der gelernt hat, die Üblichkeiten nicht unbefragt zu lassen, wird zwar die funktionale Nützlichkeit der Schemata erkennen, er wird sich gerne von seinem Vater oder Lehrmeister zeigen lassen, wie man es immer schon, das heißt schematisch, anstellt, den Boden zu bearbeiten, Werkzeuge herzustellen, Häuser, Straßen und Brücken zu bauen, er wird sich aber damit nicht begnügen und sich immer fragen, ob das tradierte Muster nicht transzendiert, das heißt verbessert werden kann. Reflexion macht den Menschen zum weltverbessernden Techniker und Erfinder.

Die kulturhistorische Bedeutung des kontrafaktischen Monotheismus lässt sich recht gut im interkulturellen Vergleich ablesen. Es gab Hochkulturen wie die des alten China, die in vieler Hinsicht der mittelmeerischen und abendländischen überlegen waren. Ihr kosmisches, das heißt auf Wohlordnung und stabilisierende Affirmation des zivilisatorisch Erreichten zielendes Denken und Handeln führte, wie in allen archaischen Gesellschaften, zur Verherrlichung des Greisenalters. Das menschliche Leben erlangte seinen Höhepunkt durch die Akkumulation von Erfahrung. Nicht wer gute Ideen hatte, macht im alten China eine staatliche Karriere, sondern derjenige, der durch schwere Prüfungen gegangen war, die auf die Beherrschung der literarischen und anderer Traditionen abzielten.

Das kosmische Prinzip der Wohlordnung wirkte auch auf die polytheistische Leitkultur des Hellenismus wie ein Tranquilizer. Polytheistische Mythen, wie der vom Erfinder Dädalus, zeigen, dass die durch Philosophie und Reflexion geprägte Kultur der Hellenen zwar große innovative Potentiale enthält, aber der Erfinder, schlimmer noch sein Sohn Ikarus, scheitert, und alle Zuhörer sollen daraus lernen, dass sie die Hybris vermeiden und sich in die von der Sphäre der Götter und der Sphäre der Menschen bestimmte kosmische Ordnung fügen sollen.

Die Religion der Griechen zielt wie jeder Polytheismus auf Entspannung. Unsere zeitgenössischen Lobredner des Kosmotheismus und des Polytheismus beschreiben sehr genau die Vorzüge dieser entspannten religiösen Weltsichten. So hat ein Polytheist niemals ein Theodizee-Problem. Zwar lebt auch er nicht ohne Leid, aber er muss sich nicht die aufwühlende Frage stellen. Wieso kann ein guter Gott, der als Schöpfer der Herr der Wirklichkeit sein soll, es zulassen, dass ...? – und nun kann sich jeder die skandalisierenden Schrecken aus Vergangenheit und Gegenwart vor Augen stellen, bis hin zum industrialisierten Völkermord in Auschwitz und Birkenau. Der Monotheismus dagegen leistet sich die unaufgelöste Spannung einer gleichzeitig unabweisbaren und unbeantwortbaren Frage.

Ein Polytheist hat deswegen dieses Problem nicht, weil seine Gottheiten nicht mit dem Schöpfer der Welt identisch sind, weil sie auch nicht untereinander harmonieren müssen. Wenn Odysseus Gutes widerfährt, bedankt er sich bei seiner göttlichen Freundin Athene, wenn es ihm schlecht ergeht, weiß jeder Leser der Ilias und der Odyssee, dass es Poseidon ist, der ihn aus Rache verfolgt. Alle Götter des Polytheismus sind funktionalistische Verlängerungen menschlicher Interessen. Es gibt die Göttin der Liebe und den Gott der Kaufleute und Diebe, es gibt die Göttin der Fruchtbarkeit und den Gott der Heilkunst. Und wer eine Seereise antritt, weiß, dass er dem Poseidon opfern muss. Gebete und Opfergaben ermöglichen eine Wechselwirtschaft zwischen Menschen und Göttern, die auf dem Prinzip Leistung und Gegenleistung aufruht. Wenn eine Gottheit nach einem Opfer nicht die gewünschte Leistung erbringt, dann war das Opfer entweder nicht vorschriftsmäßig oder nicht ausreichend.

Dies durchschaute die Religionskritik, die ungefähr gleichzeitig im vorsokratischen Griechenland und im alten Israel auftrat. Wir sprechen daher von der vorsokratischen Aufklärung ebenso wie neuerdings von der biblischen Aufklärung. Die Propheten durchschauen und verspotten das Selbermachen von Göttern (z. B. Jes 44). Sie sehen, dass die Götter ihre Existenz nichts anderem verdanken als dem Trostbedürfnis und dem Wunsch der Menschen, die sich an sie wenden, weil sie an ihre Grenzen gestoßen sind. Die Grunderkenntnis der biblischen Aufklärung kann in dem Satz zusammengefasst werden: Ein selbstgemachter Gott ist kein Gott.

Der Durchbruch zum Monotheismus ist nicht blitzartig erfolgt, sondern ein Prozess, der über mehrere Stufen hin verlief, bei dem es immer wieder Rückschläge gab. Wenn die selbstgemachten Götter verabschiedet werden sollen, muss die Konsequenz nicht, wie bei manchen der vorsokratischen Religionskritiker, atheistisch sein. Im alten Israel jedenfalls ist sie nicht atheistisch gewesen. An die Stelle der selbstgemachten Götter und an die Stelle der Götter, die sich auf bestimmte Naturphänomene wie Sterne, Bergspitzen, Quellen oder andere prominente Stellen der Erdoberfläche als Projektionspunkte beziehen, tritt ein Gott, der schlechterdings keine Funktion in der Welt sein oder haben kann, weil er nämlich der Schöpfer der Welt ist. Die Beziehung zu ihm ist auch nicht durch irgendwelche Opfergaben und Tauschgeschäfte oder sonstige religiöse Dienstleistungen der Frömmigkeit bestimmt. Wenn Gott nicht das Produkt menschlicher Sehnsüchte, Wünsche und Projektionen sein kann, dann bleibt eigentlich nur der Weg, dass Gott sich selbst offenbart, dass er es ist, der die Beziehung zwischen ihm und den Menschen herstellt. Das ist der theologisch zentrale Kern der Bundestheologie.

Zunächst wird das Handeln Gottes auch als ethnozentrische Parteilichkeit gedeutet. Die Kinder Israel werden etwa aufgefordert, die Ägypter auszuplündern, sie zu betrügen, indem sie sich ihre Silbergerätschaften ausleihen und nicht zurückgeben (Ex 3,22). Auch kann man fragen, ob ein Pharao, der nicht aus eigenem Antrieb zu seinem Verbot zurückkehrt, die Kinder Israel ziehen zu lassen, sondern deshalb, weil Gott sein Herz verhärtet, wirklich böse ist und das Strafschicksal verdient, im Roten Meer ersäuft zu werden (Ex 10,1).

Der Heilspartikularismus ist aber nicht konstitutiv für den neuen Monotheismus. Im Abrahamsegen ist schon die Perspektive auf alle Völker eröffnet, für welche die Nachkommen Abrahams ein Segen sein sollen (Gen 22,18). Auch sind im Schöpfungslied von Genesis 1, das im babylonischen Exil entstand, alle Menschen ein Stellvertreterbild Gottes (Selem).

Entscheidend ist jedenfalls, dass mit dem Monotheismus in der Religionsgeschichte erstmals der Rahmen des Funktionalismus verlassen wird. Zwar ist die praktische Religionsausübung oftmals eine Fortsetzung der Üblichkeiten, wie sie auch in funktionalen Religionen vorkommen. Israel opfert weiterhin. Das ganze Buch Levitikus enthält detailreiche Vorschriften für den Kult. Aber der Sinn dieser Opferpraxis ist nicht mehr der einer Wechselwirtschaft. Wer im alten Israel opfert, erwirbt dadurch keine Ansprüche gegenüber Gott. Es geht vielmehr um die Demonstration einer Anerkennung Gottes, dem durch rituelle Praxis und religiöses Exerzitium die Ehre gegeben wird, obwohl und gerade weil sein Handeln nicht einem menschlichen Kalkül unterliegt, ein handlungssprachlicher Lobgesang. Von dem neuen Gott des Monotheismus heißt es: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege“ (Jes 55,8).

Das Neue am Monotheismus ist, dass der eschatologische Vorbehalt gilt, die Einsicht, dass der Mensch zwar vieles weiß und kann, dass aber die letzten Dinge, die Eschata, nicht ihm gehören, sondern Gott vorbehalten sind. Dieser nichtidentische Rest der Welt konstituiert ein neues Wirklichkeitsverständnis. Die Welt ist gerade nicht, wie Ludwig Wittgenstein am Anfang seines „Tractatus“ behauptet, „alles, was der Fall ist“, für den Monotheisten ist die Welt beides, alles, was der Fall ist, und alles, was noch nicht der Fall ist, aber der Fall sein sollte.

Wenn wir verstanden haben, wie Ursache und Wirkung zusammenhängen, wenn wir die Mechanismen einer kosmisch geordneten Welt rekonstruieren, sprechen wir von der Einsicht in eine Funktion. Die Pointe, um die es mir bei diesem Gedankengang geht, soll in der Behauptung bestehen, dass die Wirkungsgeschichte des Monotheismus paradox ist. Dass erstens seine kontrafaktische und transgressive, Schemata transzendierende Potenz eine Ursache für den naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritt ist, dass aber dieser Fortschritt, der sich auf diese Weise als funktional überaus nützlich erweist, dieses nur sein kann, weil es ein Jenseits des Funktionalismus gibt. Weil Gott das Andere des Funktionalismus ist, entwickelt die eschatologische Gottesvorstellung jene Spannung, die als Motor des Fortschritts wirkt.

Dieses transfunktionalistische Paradox ist im kulturhistorischen Vergleich auch der Grund, warum die Rakete des zivilisatorisch-technischen Fortschritts in eben der Welt­gegend gestartet worden ist, die vom kontrafaktischen Wirklichkeitsverständnis der Ju­den und Christen und von ihrem Denken geprägt war, in dem das Schemata-Transzen­dieren habituell geworden ist.


II.
Nach dem Lebensgefühl eines durchschnittlichen Intellektuellen in Westeuropa ist das Christentum am Ende. In Frankreich, das sich als die „älteste Tochter der Christenheit“ bezeichnet, besuchen am Sonntag gerade noch drei Prozent der Bevölkerung die Sonntagsmesse. Zwar wird die ältere Säkularisierungstheorie, nach der Religion und Moderne inkompatibel sind und der Modernisierungsprozess gleichsam automatisch zum Verschwinden der Religion führt, kaum mehr vertreten, Religionsphänomenologen und Soziologen konstatieren Suchbewegungen auch außerhalb der verfassten Kirchlichkeit, aber dennoch wird in Feuilletons und auf den Hochschulen vielfach so geredet, als sei das Christentum am Ende seiner Epoche. Der Rückgang einer überindividuellen Religiosität, die nicht nur von der Frage ausgeht „Was bringt mir das?“, mag vielerlei Gründe haben. Ein entscheidender Grund ist die Verabschiedung lebensförmiger Religion durch viele Theologen.

Gewiss ist Religion nicht ausreichend beschrieben, wenn man sie mit Theologie verwechselt. Dies tun jene Theologen, die die Schwäche des europäische Christentums auf kognitive Modernisierungsdefizite zurückführen. Am Beispiel der Wirkungsgeschichte eines großen hermeneutischen Modernisierungsschubs, nämlich der „Entmythologisierung“ (Bultmann) der biblischen Texte, lässt sich zeigen, dass offenbar das Gegenteil zutrifft. Eine Theologie, die nur entzaubert, ist nicht religionsfähig. Eine antireligiöse Theologie, wie sie Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts propagierten, mag als Reflex, nicht aber als taugliche Antwort auf das Ende der volkskirchlichen Verhältnisse im Protestantismus durchgehen. Religion ist überall in der Kulturgeschichte mit einer rituellen Praxis verschwistert, die gern in der antiklerikalen Tradition des 18. Jahrhunderts als Obskurantismus gedeutet wird.

Die katholische Kirche hat besonders in den einschlägigen Texten des zweiten Vatikanischen Konzils ein positives Verhältnis zu einer Religiosität auf anthropologischer Basis gefunden. Fremde Religionen werden nicht verworfen, die in ihnen enthaltenen positiven Elemente werden im Gegenteil anerkannt. Antikultische und antireligiöse Deutungen des Monotheismus, die intellektuell gewiss reizvoll sein mögen, hat die römische Kirche sich nie zu Eigen gemacht. Dies hätte ihrer eigenen Praxis widersprochen. So war es ihr möglich, die kontrafaktischen Potentiale und das transfunktionalistische Wirklichkeitsverständnis des Monotheismus mit kultischer Praxis zu verbinden, sie im Idealfall sogar als ihren Ausdruck zu deuten.

Besonders mit dem Namen des spätantiken Philosophen, der unter dem Namen Dionysius Areopagita bekannt ist, und mit der früh­neuzeitlichen Gestalt des Nikolaus von Kues verbindet sich eine Deutung des Ritus als ein Exerzitium, welches die Grenzen der Rationalität nicht nur sichtbar macht, sondern es sogar ermöglicht, dem transfunktionalen Wirklichkeitsverständnis einen paradoxen „Sitz im Leben“ zu verschaffen. Dies hat nichts mit einem obskurantistischen Zauber zu tun, sondern hat geradezu aufklärerische Bedeutung für den Garten der Vernunft, der zu seiner Selbstdeutung jener Zeichen eines Außerhalb bedarf.

Diese Tradition eines aufgeklärten Kults ist freilich bedroht. Der Rückgang der rituellen Praxis, das Verschwinden eines Gespürs für Sakralität reicht bis weit in den Innenraum der Kirche, der in seiner Alterität weithin nicht mehr verstanden wird. Dies gilt kurioserweise besonders für den Mainstream der liturgiewissenschaftlichen Zunft oder für Pastoraltheologen wie Dieter Emeis. Hier besteht die Neigung, die Installationen des Mysteriums pädagogisch zu funktionalisieren. Wenn das eucharistische Brot nur zum Symbol für das menschliche Miteinander, nicht aber mehr als die rätselhafte Gegenwart des alteritären Gottes verstanden ist, wird das monotheistische Erbe vertan. Getreu der Devise Immanuel Kants „Man muss den Heiligen des Evangelii [Jesus, E. N.] so lange interpretieren, bis etwas Vernünftiges dabei herauskömmt“ reduziert sich das Selbstverständnis der Kirche auf das einer Agentur für Frieden, Gerechtigkeit, Ökologie, Emanzipation der Frau, das Lebensrecht von Embryonen etc., mithin auf eine Agentur eines vernunftkonformen ethischen Funktionalismus.

Die Alterität der Kirche zu vergessen, läuft auf eine freiwillige Säkularisierung hinaus. Der Rückzug allerdings in eine neue fideistische Alterität, in das weltlose Kloster oder das himmlische Jerusalem vor dem jüngsten Tag wäre die klassische Figur der sektiererischen Schwärmerei. Vor der Fahrt in diesen Straßengraben warnen in der Regel alle, die in den anderen schon gerutscht sind. Hier gibt es benennbare Fehlentwicklungen und behebbare Defizite, die von der Kirche zu verantworten sind und daher ein wichtiges Reformpensum darstellen.

Wenn es aber richtig ist, dass die monotheistische transfunktionalistische Kultur den Nährboden für den technischen und zivilisatorischen Fortschritt geliefert hat, dann ergeben sich wichtige Fragen.

Die erste Frage zielt auf die doppelte Wirkungsgeschichte des Christentums. Die klassische Religion der Nächstenliebe wendet ihre ganze Kraft und Emotion der Bekehrung des Herzens zu, einer Werbung dafür, im Antlitz des Anderen das eigene Gesicht wiederzuerkennen, den naturwüchsigen Drang zur Selbstbehauptung und Autozentrik aufzubrechen und einen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Bei Jesus ist für diese Bewegung das Verhältnis zu Gott dem Vater unerlässlich. Er, der die vollkommene Liebe ist, verlangt vom Menschen nichts weniger als dies: die vollkommene Liebe. „Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist“. (Mt 5,48) Vor dieser unglaublichen Forderung, die so unerfüllbar wie ernst gemeint ist, muss jede Selbstgerechtigkeit eines frommen Pharisäers und Schriftgelehrten zerschmelzen. Aber ohne diese moralische Forderung hätte die Bergpredigt, in der sie erhoben wird, niemals die Sprengkraft erhalten, die das Christentum in seinen kräftigsten und vitalsten Phasen ausgebildet hat. Wer mit den Karnevalisten singt „Wir sind alle kleine Sünderlein, ’s war immer so, ’s war immer so“, wird alles so lassen, wie es immer schon immer so war. Aber das Christentum ist nicht die Religion einer altersweisen Beruhigung. Es ist vielmehr die Religion der eschatologischen Spannung. Es wäre durchaus lohnend, das Schicksal dieser Forderung durch zweitausend Jahre Kirchengeschichte einmal zu verfolgen, das Wechselspiel und die Dialektik von Aufbruch und Etablierung nachzuzeichnen, doch soll es hier bei dieser Andeutung bleiben.

Stattdessen sollten wir den Blick auf die zweite, weithin übersehene Wirkungsgeschichte richten, dorthin also, wo das Transzendieren der Schemata sich nicht im zwischenmenschlichen Bereich, sondern im Bereich der Naturbeherrschung auswirkt. Hier ist auch nicht der Raum für eine Untersuchung der interessanten Frage, warum das Tempo von Innovation und technischer Erfindung erst mit Beginn der frühen Neuzeit ansteigt, bis schließlich im 19. und 20. Jahrhundert immer mehr zu beobachten ist, wie Erfindungen Erfindungen generieren, wie die Beschleunigung sich selbst beschleunigt und schließlich das Veränderungstempo so schnell wird, dass wir die Frage sehr ernst nehmen müssen, ob die gattungsgeschichtlich und genetisch weitgehend festgelegten Rhythmen der Gattung homo sapiens mit dem rasenden Veränderungstempo seiner Umgebung noch kompatibel zu halten seien.

Die wohlbekannte, auf den zwischenmenschlichen und moralischen Bereich zielende Wirkungsgeschichte des Christentums, nennen wir sie einmal W1, hat es vor allem in ihrer kirchlichen Gestalt, in der Moderne, schwer. Die andere, lange übersehene Wirkungsgeschichte des Christentums, das kontrafaktische Schemata-Transzendieren im Sinne der Naturbeherrschung, nennen wir sie einmal W2, ist in der Selbstdeutung der modernen Gesellschaften in der Regel nicht nur nicht dem Judentum und Christentum zugeschrieben, sondern sogar als säkularisierende Gegenkraft identifiziert worden. Das hat verstehbare und rekonstruierbare Gründe, die aber nicht dazu führen dürfen, dass W2 überhaupt geleugnet wird.

So ist die kontingente Gestalt feudaler und absolutistischer Gesellschaftsformen oft als gottgewollt legitimiert worden. Im Absolutismus ist der Gedanke des Gottesgnadentums zu einer puren Ermächtigungsformel verkommen. Aus gehörigem zeitlichen Abstand erkennen wir heute freilich, dass es keineswegs ein Zufall war, dass der gewissermaßen „unnatürliche“ Gedanke der Gewaltenteilung in der jüdisch-christlichen Hemisphäre sich durchgesetzt hat. Welcher Herrscher lässt sich schon die Möglichkeit entgehen, seine Herrschaft durch die Funktionalisierung der Religion zu befestigen? Der Zusammenfall von Priester- und Königsherrschaft ist im kulturellen Vergleich über die alten Hochkulturen bis weit in die Neuzeit hinein der Normalfall. Der Gedanke der Gewaltenteilung dagegen ist ein künstliches Arrangement, dessen biblische Wurzeln wir heute sehr gut sehen und freilegen können. Erst wenn Gott nicht mehr ein Ding oder eine Person in der Welt, wenn er vielmehr der Schöpfer der Welt ist, dann bildet er eine Instanz, die prinzipiell oberhalb jeder irdischen Herrschaft anzusetzen ist. Erst ein solcher unsichtbarer und bilderloser Gott ist es, in dessen Namen Natan vor David hintreten und „ihm die Leviten lesen“ kann. Diese eschatologische Gewaltenteilung ist im Neuen Testament verschärft worden. Jesus weist den Pilatus, der ihn daran erinnert, dass er der Herr über sein Leben sei, darauf hin, dass er, der faktisch Mächtigste im Land, nicht wirklich der Höchste ist. Er hätte – so Jesus – keine Gewalt über ihn, wenn sie ihm nicht von oben gegeben wäre. Das, was „des Kaisers ist“, ist nicht identisch mit dem „was Gottes ist“. Augustinus bildet diese eschatologische Gewaltenteilung zur Lehre von den „zwei Reichen“ aus, die den Dualismus zwischen geistlicher und weltlicher Herrschaft begründet. Über zweitausend Jahre hin sind nahezu alle Variationen dieses Dualismus, alle Möglichkeiten ausprobiert und durchdekliniert worden, vom Cäsaro-Papismus Gregors des Großen bis zur Szene in Notre Dame zu Paris, bei der sich Napoleon selbst krönt und den Papst als obersten geistlichen Repräsentanten zum Notar degradiert.

Inzwischen ist das Prinzip der Gewaltenteilung zu einem Grundpfeiler der politischen Ordnung in der Demokratie geworden. Doch Montesquieus Gedanke ist nicht vom Himmel gefallen, oder er ist in einer Weise vom Himmel gefallen, wie wir sie eben skizziert haben. Die eschatologische Gewaltenteilung ist die Wurzel aller Gewaltenteilung. Die Instrumentalisierung und Funktionalisierung der Kirche durch weltliche Macht bedeutet immer auch für sie die Gefahr, korrumpiert zu werden. In revolutionären Umsturzsituationen wird folgerichtig die Kirche in dem Maße beschädigt, wie sie sich mit dem etablierten Regime eingelassen hatte. Dies gilt nicht nur für das Ancien-Régime Frankreichs, dessen Bischofsstühle in der Hand der Aristokratie waren, sondern auch für die lutherisch geprägte Staatskirche der preußischen Monarchie, deren Untergang die evangelische Volkskirche in Mittel- und Ostdeutschland so sehr beschädigte, dass das Werk der Entchristlichung von der NS-Herrschaft und dem stalinistischen Regime nur fortgesetzt werden musste. So steht die staunende Welt vor der Tatsache, dass das Herzland der Reformation, neben Tschechien das am meisten entchristlichte Gebiet Europas darstellt.

Die kryptotheologischen Wurzeln von W2 betreffen jedoch weniger die Gesellschaftsordnung und die Stellung der Kirche in ihr, sondern das Verhältnis von Religion zu Naturwissenschaft und Technik. Zunächst prallten das biblische Weltbild und der kosmologische Befund hart aufeinander. Galileo Galilei ist zur Symbolfigur dieses Konflikts stilisiert worden, auch Charles Darwin markiert eine wichtige Station. Kosmologie und Evolutionstheorie wurden lange Zeit als große Kränkungen und Bedrohungen des biblischen Gottesglaubens empfunden. In der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts sind klassische Kernstücke der Metaphysik, wie das Konzept der Subjektivität und Freiheit mit großer Geste verabschiedet worden. Auch diese Theorien werden meist als Begründung dafür herangezogen, dass Christentum und Moderne inkompatibel seien. Subjektivität, Personalität und Freiheit haben freilich auch ihre starken Verteidiger gefunden. Die Transzendentalphilosophie Kants ist fortgeschrieben und im Kontext einer neuen Sprachphilosophie transformiert worden. Insgesamt scheint es in der Welt der Gelehrsamkeit für diejenigen, die an den entscheidenden Diskursen wirklich teilnehmen, kein unlösbares Problem mehr zu sein, die biblische Tradition mit der Moderne zu versöhnen. Wir gehen einen Schritt weiter und führen Gründe an, warum die Moderne auch in ihrer naturwissenschaftlich-technischen Gestalt nicht nur mit dem Christentum kompatibel, sondern sogar ein Produkt der biblischen Tradition ist. Dass dies so behauptet werden kann, ist auch der großen hermeneutischen Leistung zu verdanken, die wir in der historisch-kritischen Bibelexegese vor uns haben.

Nun wissen wir, dass jenes Buch von Büchern, das wir Bibel nennen, zwar von göttlicher Offenbarung redet, sie in gewisser Weise auch enthält, aber in ihrer interpretationsbedürftigen Textgestalt nicht umstandslos Offenbarung ist. Dieses Buch ermöglicht es uns, die Heilsgeschichte als eine evolutionäre Religionsgeschichte zu deuten. Der entscheidende Umbruch vom Polytheismus zum Monotheismus lässt sich bei der Verabschiedung eines Konzepts finden, das man das Konzept Gottespräsenz im Kultbild nennen könnte.

Allen Menschen gemeinsam ist jenes antiphonische Verhältnis zwischen innen und außen, das wir bis in unsere Tage in der romantischen Naturpoesie, wie überhaupt in der Poesie, bewahrt haben. Es schläft, wie Joseph von Eichendorff es sagt, „ein Lied in allen Dingen“. Der große Wechselgang zwischen innen und außen beseelt die Natur als das Gegenüber des Menschen, sucht Bilder in den Wolken und gibt den Bäumen und Felsen Nasen und Gesicht. Von der Animation zur Kreation von menschenanalogen Personen in den Naturkräften, vom Animismus zum Polytheismus also, ist kein großer Schritt zu gehen. Dass man die Personnage, das beseelte göttliche Gegenüber des Menschen, in Kultbildern und Idolen verdinglicht, ist dann nur konsequent. In der Geschichte von der Zermalmung des Goldenen Kalbes, dessen goldene Staubmaterie Mose in Wasser streut und den Israeliten wieder zu trinken gibt, liegt uns wieder eine jener Lehrperformances vor, wie sie für biblische Texte charakteristisch sind. Sie soll dem Volk klar machen: Aus euch ist dieser Gott gekommen, jetzt werdet ihr ihn euch wieder einverleiben, damit ihr seht, dass er selbst gemacht war (Ex 32,20).

Diese wichtige Stufe der biblischen Aufklärung führt nicht zum Atheismus, sondern zu einem geläuterten und transformierten Gottesverständnis. Den Gott, der nicht ein Produkt menschlicher Wünsche und Kultbedürfnisse ist, der auch nicht dazu da ist, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, hatten wir als das Andere des Funktionalismus identifiziert. Seine Eigenschaft besteht geradezu darin, durch menschliches Kalkül nicht beherrscht werden zu können. Die Andersartigkeit dieser neuartigen Gottheit besteht auch darin, dass sie kein Ding in der Welt ist, sondern der Schöpfungshintergrund der Welt als ganzer. Daher kann dieser ganz andere Gott auch nicht einen Namen haben wie die Götter oder wie die Dinge in der Welt. Gleichwohl ist er da. Mose, der nach einem Namen für diese neue Gottheit fragt, hört nicht einen Namen, sondern gleichsam den Platzhalter eines Namens. Das Tetragramm, jene geniale Formel JHWH, ist eine Antwort, die zur Namensfrage nicht passt. Denn Mose hört keinen Namen, so wie Dinge in der Welt Namen haben, sondern was er hört, ist die Artikulation der reinen Präsenz: „Ich bin der ich bin da“.

Das alte Israel antwortet auf das Konzept der Gottespräsenz im Kultbild mit einem radikalen Bilderverbot. Der namenlos Anwesende spricht zu Mose, indem er sich entzieht, und entziehende, beraubende und verbietende Vorschriften in der Form „Du sollst nicht“ erlässt. Monotheistische Offenbarung hat einen privativen Kern. Offenbarung ist Bestreitung.

Das Normalverhalten der Menschen in der Welt ist, dass sie ihre Zwecke verfolgen, also arbeiten. Im Sabbat-Gebot, das eigentlich ein Arbeitsverbot ist, wird dieses Kontinuum der Zwecke suspendiert. Der Sabbat, der Tag des „Übernützlichen“, um einen Ausdruck Thomas Manns zu gebrauchen, ist eine Installation göttlicher Zweckfreiheit, ein Reservat von Andersheit und Alterität. Die Semantik des neuen Gottes ist also gekennzeichnet durch Privation, Beraubung, Aussparung, eine besondere, neue Form von Sakralität, die sich zunächst im Text niederschlägt. Israel gibt der Thora messianische Qualität. In unserer Religionsgeschichte ist dies eine wichtige Stufe, in der die Gottespräsenz im Text anzunehmen ist.

Schließlich kommt der Monotheismus nach christlicher Auffassung im Neuen Testament zu seiner inkarnatorischen Vollgestalt. Indem Jesus den Text als Ort der Gottespräsenz kritisiert, den Buchstaben, der tötet, bekämpft und den Geist zum Wehen bringt, der lebendig macht, demonstriert er das Konzept Gottespräsenz im Fleisch. Knapper als der Johannesprolog kann man es nicht ausdrücken: „Und das Wort ist Fleisch geworden“ (Joh 1,14).

Mit Jesus ist die Entwicklung des Monotheismus so weit gekommen, dass von einer Gottespräsenz im Menschen gesprochen werden kann. Allen, die das Fleisch gewordene Wort aufnehmen, „gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind“. (Joh 1,12 f.) Jesuanische, das heißt inkarnatorische, Fleisch gewordene Frömmigkeit kann nicht in weltlose, reine Alterität abgleiten. Die Kritik Jesu an dem ihm überkommenen Konzept der Gottespräsenz im Text des göttlichen Gesetzes entzündet sich regelmäßig dann, wenn dieses Gesetz gegen das oberste Gebot der Gottes- und Nächstenliebe verstößt.

Über diese Liebe ist im Neuen Testament sehr Konkretes gesagt. Die Werke der Barmherzigkeit gibt es wirklich. Sie werden direkt benannt: Die Kranken besuchen, die Gefangenen befreien, etc. Sich in die Bahn des göttlichen Willens einzufädeln, ist nicht unmöglich. Das Gebet, in dem es heißt „Dein Wille geschehe“, benennt nichts, was nicht erfüllt werden könnte. Der göttliche Wille kann also durchaus getroffen werden, gewiss aber nicht in dem Sinn, dass er mit letzter Sicherheit in Besitz genommen werden kann. Die Usurpation des göttlichen Willens ist die Gotteslästerung der Frommen.

Wer ein „Deus vult!“ auf die Fahnen seiner Kreuzzüge schreibt, die doch meist seinem eigenen Vorteil gelten, funktionalisiert Gott, ist also einer, der vom monotheistischen Glauben faktisch abgefallen ist, selbst wenn er vorgibt, für ihn zu streiten. Der Protest Jesu gegen die Frommen seiner Zeit, die Pharisäer und Schriftgelehrten, muss also als Rekonstruktion eines ursprünglichen Monotheismus verstanden werden, der den eigenen Willen nicht mit dem Willen Gottes verwechselt, der das eigenen Handeln unter die dauernde Anfrage des göttlichen Vorbehalts stellt. Es bleibt also dabei: Das Christentum ist die Religion, die auf der anderen Seite eines sich selbst vollkommenen durchsichtigen Funktionalismus steht.


III.
Leo J. O’Donovan hat in seiner Grundsatzrede auf dem ersten ökumenischen Bildungskongress der beiden Kirchen am 26. November 2000 im Französischen Dom zu Berlin eine steile Behauptung aufgestellt. Seine Analyse einer globalen Gesellschaft, die nach dem Ende des planwirtschaftlichen, blutigen Großexperiments nur noch von dem Gedanken des Wettbewerbs und der Marktwirtschaft beherrscht wird, mündet in die Behauptung, der Ökonomismus laufe auf einen Totalitarismus neuer Art hinaus, einen totalitären Funktionalismus. Dieser Totalitarismus wird von den bisher bekannten Formen totalitärer Ideologie abgrenzt. Diesmal gibt es kein „historisches Subjekt“, das wie im Marxismus als Agentur der Weltgeschichte betrachtet wird, auch handelt es sich nicht um ein reales Subjekt, das, wie Hitler, die Weltherrschaft anstrebte, sondern, im Gegenteil, um das, was Adam Smith die „invisible hand“ genannt hat. Die unsichtbare Hand des Marktes, dessen Steuerungskraft sich in der Tat als der im funktionalistischen Sinne erfolgreichste Weg erwiesen hat, ist subjektlos. Totalitär nennt er den globalisierten Markt, weil er dabei sei, auf alle Lebensbereiche überzuspringen. Die Ökonomie, die früher sich auf die Produktion und Distribution von Waren sowie auf Dienstleistungen beschränkt habe, erobere nach und nach alle Lebensbereiche, den Sport, die Freizeit, den Tourismus, die Kunst, ja sogar die Religion.

Anlass für den Präsidenten der Georgetown-Universität in Washington D. C., diese Skizze einer totalitären Weltökonomie zu entwerfen, war die aktuelle Konjunktur der Bildungsreform in der Bundesrepublik Deutschland. Der Kongress „tempi. Bildung im Zeitalter der Beschleunigung“ stellte den Versuch der beiden Kirchen in Deutschland dar, sich aus Anlass des „Forum Bildung“ mit einem eigenen, unverwechselbaren Votum zu Wort zu melden. Das „Forum Bildung“, eine Idee der Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn, war der Versuch ihres Hauses, zusammen mit der Kultusministerkonferenz, dieser Bildungsreformdebatte ein staatliches Dach zu geben. Alle Parteien, aber auch die Bertelsmann-Stiftung, die Hans-Böckler-Stiftung, Wirtschaftsverbände und Banken, hatten sich in dieser Bildungsdebatte schon zu Wort gemeldet.

Das Bildungswesen, so hört man gelegentlich lästern, folgt einem Schweinezyklus von Reform und Stagnation. Der seinerzeit in den sechziger Jahren von Georg Picht ausgerufene Bildungsnotstand war durch die kulturrevolutionären Ereignisse von ’68 erhitzt worden, dann aber in eine ratlose Konsolidierungsphase ausgelaufen. Die aktuelle Bildungsreformdebatte ist aber mehr als eine Modeerscheinung. Sie hat zwei konkrete und handfeste Antriebskräfte: Die Wirtschaft hat das Wissen als so etwas wie einen neuen Bodenschatz, als Ressource entdeckt. Bildung und Wissen sind immer schon mit wirtschaftlichem Erfolg verbunden worden. Wissen war eine wichtige Kraft zur Erschließung von Ressourcen. Neu aber war und ist, dass das Wissen selber als Ressource bezeichnet wird. In diesem Sinn ist das Ausrufen einer Wissensgesellschaft der Versuch einer Epochalisierung, nach dem Industriezeitalter der Ausdruck eines neuen Lebensgefühls. Die zweite Triebkraft ist das von Leo J. O’Donovan so genannte super-tool der neuen Kommunikationstechnologien. Dies alles führt dazu, dass die Bildungsinstitutionen einem Umstrukturierungsprozess unterworfen werden, der sie aus einer kameralistischen und etatistischen Tradition in das wirtschafts- und marktförmige Denken überführen soll. Die Schulen werden einem Lean-Management unterworfen, sie werden ebenso einem Qualitätsmanagement unterzogen, treten untereinander in einen gewissen Wettbewerb, betreiben eine Personal- und Organisationsentwicklung, die den Rezepturen von McKinsey & Company folgt, lernen, sich mittelfristige Ziele zu setzen, treffen mit ihrem Personal Zielvereinbarungen, die evaluiert werden können, haben ein Budget zur Verfügung, das sie in gewissem Umfang selbst bewirtschaften können, bilden eine Corporate identity aus und entwickeln ein umfeld- und marktorientiertes Schulprogramm. In England und den USA ist die Industrialisierung der Bildungsinstitutionen schon zehn Jahre früher ins Werk gesetzt worden, die Ergebnisse sehen allerdings nicht so aus, dass sie zur Nachahmung einladen. Gewiss wäre ein besinnungs- und umstandsloses Übernehmen eines marktförmigen Organisationsdenkens in die Bildungsinstitutionen nicht weise. Ebenso wenig wird man bestreiten müssen, dass schlechterdings alles, was vom Markt und der Industrie gelernt werden kann, des Teufels sei.

Am Ende ist die Erinnerung wichtig, dass Bildungsinstitutionen erstens kein Geld verdienen müssen und zweitens auch einen Auftrag haben, der weitergeht, als ihn manche Verlautbarung aus Wirtschaftskreisen definieren. Die Frage der Wirtschaftsführer lautet schlicht: Wie kann das Ausbildungssystem die einem schnellen Wandel unterworfenen neuen Bedürfnisse des Beschäftigungssystems besser bedienen? Diese Frage ist legitim. Aber der Auftrag der Schule geht weiter.

Bildung ist mehr als Wissen, und die Schule dient dem Ziel des guten Lebens. O’Donovan macht auf einen gewichtigen Unterschied aufmerksam: Die Unsichtbare Hand des Marktes ist nicht die Hand Gottes. Es gibt genügend Beispiele dafür, dass ein liberalistisch entfesselter Markt, der keinerlei Außensteuerung hat, nicht nur nicht automatisch dem guten Leben aller dient, sondern an bestimmten Problemen scheitert, die mit seinen eigenen Mechanismen zusammenhängen. So haben die Wirtschaftswissenschaftler längst erkannt, dass es einer Außensteuerung bedarf, die Monopolbildung verhindert und den Wettbewerb sichert. Im Bildungssektor ist der Markt an einer bestimmten Stelle besonders bedürftig. Seine Tempi sind abhängig von Warenumlaufzeiten und Kapitalumlaufzeiten, die immer kürzer und kürzer werden. So ist die Wirtschaft darauf angewiesen, dass es Institutionen gibt, die unabhängig vom aktuellen Marktgeschehen mittel- und langfristige Bedürfnisse sichern. Auch ist der Lebensrhythmus des Menschen gattungsgeschichtlich so vorgeprägt, dass die Ausbildungszeit im Jugendalter immer in einem gehörigen Abstand zur Beschäftigungszeit im Erwachsenenalter verbleiben wird. Immer weniger aber weiß man, wie die Berufsbilder dann aussehen, wenn die Jugendlichen von heute die Erwerbstätigen von morgen sein werden. Von daher versteht sich die verstärkte Aufmerksamkeit für das, was bleibt, auch wenn sich vieles ändert. Das sind nicht nur Schlüsselqualifikationen, die unter dem Stichwort „das Lernen lernen“ eine Rolle spielen, dazu gehören auch die persönlichkeitsbildenden Stabilisatoren und das, was uns unsere kulturelle Identität und das humane Gedächtnis sichert. Die Werte der Demokratie sind nicht selbstverständlich, daher ist es überlebenswichtig, sich an die großen antihumanen und antidemokratischen Desaster, etwa des vergangenen Jahrhunderts, zu erinnern. Lebensformen, familiale Strukturen und Lebensrhythmen sind nicht die Produkte einer Designerindustrie. Je mehr Freizeit- und Unterhaltungsindustrie, auch den Lifestyle wie ein Produkt behandeln, desto knapper wird – marktförmig gesprochen – das Gut der stabilisierenden Lebensformen, die ja unter Innovationsdruck gestellt werden.

Wenn Lebensformen ständig neu erfunden und kreiert werden, dann können sie nicht mehr ihre klassische Entlastungs­funktion übernehmen. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren, mit denen Leo J. O’Donovan seine Behauptung, der Markt mit seinem Funktionalismus sei im Begriffe, totalitär zu werden, stützt. Wenn aber diese These einen Anhalt in den Tatsachen hat, dann ist die Frage nach dem Anderen des Funktionalismus die Frage nach dem Anderen des Marktes, von einer Dringlichkeit und Aktualität, die man kaum übertreiben kann.

 

IV.
Für alle, denen an der Großerzählung vom Evangelium, also an der Fortführung eines transfunktionalistischen Monotheismus liegt, müsste diese Nachricht elektrisierend wirken. Für die intellektuellen Apologeten des Christentums, die sich noch mit dem Rücken zur Wand in den traditionellen Diskussionen und Debatten des vergangenen Jahrhunderts verkämpfen und gute Argumente finden, um die Modernitätskompatibilität des Christentums zu stützen, hätte sich die Szene schlagartig verändert. In der Tat enthält die monotheistische Tradition die intelligenteste Antwort auf die Frage nach dem Außerhalb des totalitären Funktionalismus. Die Kirchen- und Ketzergeschichte war lange und variantenreich genug, um uns daran zu hindern, die einfache Lösung noch einmal zu propagieren. Sie hätten wir vor Augen, wo darum geworben wird, eine gänzlich andere Welt in einer ganz anderen Wirtschaft, womöglich ohne die Zinsknechtschaft des Geldes etc. durchzusetzen.

Es hat nicht an weltflüchtigen Versuchen gefehlt, das himmlische Jerusalem oder die klassenlose geldfreie Gesellschaft schon auf Erden auszurufen. Die intelligentere Antwort, die O’Donovan vorschlägt, ist in der Figur des Sabbats paradigmatisch vorgebildet. Hier also die Übersetzung aus biblischem Faktensprechen in den theologischen Diskurs: Der Sabbat findet nicht im Jenseits, nicht am Ende aller Zeiten, sondern in der realen Zeit der Menschen statt, die im Normalfall arbeiten, das heißt ihre Zwecke verfolgen. Da er aber, wie oben dargetan, diesen Nutzenkalkül suspendiert und die Zeit der Arbeit unterbricht, installiert er einen transfunktionalen Zeitraum, der in seiner paradoxen Struktur sich am Ende als übernützlich erweist. Der Sabbat hat zwei Gesichter. Er ist erstens für den Frommen ein Gottesdenkmal und ein Zei­chen dafür, dass die letzten Zwecke nicht ihm, sondern Gott gehören. Der Sabbat ist die zeitliche Gestalt des eschatologischen Vorbehalts.

Der sakrale Raum, der aus dem Kontinuum der unter Zweck- und Funktionsbedingun­gen betrachteten Erdoberfläche gleichsam herausgesprengt ist, hat eine analoge Struktur: Gott spricht zu Mose: „Zieh’ deine Schuhe aus, denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden.“ (Ex 3,5)

Der Monotheismus hat eine breit gefächerte Semantik der Alterität ausgebildet, die vor allen Dingen in der Liturgie zum Tragen kommt, aber auch ihre Auswirkungen auf die Kunst im Wirkungsschaffen des Bilderverbots gehabt hat. So wie der Mensch auch am Sabbat atmen und essen muss, wie er es gar nicht vermeiden kann, in seinen Gedanken der Arbeit des Werktags nachzuhängen, sie vielleicht aber auch schon prospektiv in die Zukunft zu senden – diese Möglichkeit hatten wir ja bei W2 in der Begründung für die technische und naturbeherrschende Innovationskraft des Monotheismus kennen gelernt – so kann der Mensch nicht umhin, in der Welt seiner symbolischen Formen Bilder zu machen, und seien es nur sprachliche Bilder. Das radikale Bilderverbot ist nicht lebbar. Der Mensch als Wesen, das sich gerade durch das Schaffen von Symbolen von den anderen Lebewesen unterscheidet, wird nach der religionskritischen Erkenntnis, dass es von Gott kein Bild gibt, das ihm wirklich entspricht, auf alteritätsmarkierende Möglichkeiten aus sein, die es verhindern, von Gott zu schweigen. So besitzt der Monotheismus, gerade in seiner christlichen Gestalt, einen reichen Schatz transfunktionalistischer Ausdrucksmöglichkeiten, die ihn in den Stand setzen, seine Aktualität angesichts eines totalitären Liberalismus und Funktionalismus konkret auszudrücken.

 

V.
Das Panorama, das bis hierher aufgespannt worden ist, ist statusehrlich aus der Innenperspektive der christlichen Tradition entwickelt worden. Welchen „Sitz im Leben“ können solche Überlegungen in der Schule haben, in der es neben dem Fach Religion das Fach Philosophie gibt? Völlig unproblematisch ist natürlich, solche Überlegungen oder Teile davon im Oberstufenunterricht des Faches Religion methodisch aufbereitet zu verwenden. Es ist aber auch möglich, vom agnostischen oder ungläubigen Standpunkt aus eine Geschichte des Christentums und eine Wirkungsgeschichte des Monotheismus unter dem Vorzeichen der Aufklärung zu erzählen. Neu scheint mir zu sein, dass der Anteil dessen, was rein deskriptiv dargestellt werden kann, durch die Möglichkeit, fakten- und handlungssprachliche Zusammenhänge diskursiv zu machen, sich ausgeweitet hat, indem man sie in propositionale Wörtersprache übersetzt. Die Isomorphie von Reflexion und der jesuanischen Grundfigur des Schemata-Transzendierens macht den Graben zwischen der christlichen Religion und der Philosophie schmal. Man muss kein gläubiger Christ sein, um in einem habituell gewordenen Transzendieren der Schemata und dem Innovationsdrang der westlichen Kultur ein Erbe des christlichen Monotheismus zu sehen. Wem, wie dem Verfasser, das Schicksal des Christentums in Europa durchaus am Herzen liegt, der wird daran interessiert sein, die kryptotheologischen Wurzeln der Moderne freizulegen, um damit für die Aktualität und Triftigkeit seines Christentums plädieren zu können.

 


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