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Wunschloses Beten
Was man von dem norwegischen Schriftsteller Jon Fosse erfahren kann
(Ulrich Greiner)

Zu den ursprünglichsten Formen, sich Gott zuzuwenden, gehört das Gebet. Das Wort kommt von bitten. Man bittet um gutes Wetter oder um Frieden. Als Kind habe ich mich gefragt, was der arme liebe Gott machen soll, wenn der eine Bauer um Regen bittet und sein Nachbar um Sonne oder wenn zwei Staaten gegeneinander Krieg führen und beide Gott um Beistand anflehen. Das kam und kommt ja oft genug vor. Gott schien sich aus solchen Querelen herauszuhalten, und das war meinem Gefühl nach das Beste, was er tun konnte.

Auch heute noch frage ich mich zuweilen, wie die unterschiedlichen, manchmal kontroversen Wünsche, die in den Gebeten zum Ausdruck kommen, zu erfüllen wären. Nun, sage ich mir, das ist Gottes Sorge, er wird es schon wissen. Doch wenn ich im Gottesdienst die Fürbitten höre, beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Sie klingen wie das Echo der gestrigen Tagesschau, und wenn Gott „die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft“ zur Vernunft bringen soll, dann sehe ich die nicht selten finsteren Gestalten vor mir, was meine Andacht nicht eben fördert. Gott müsste, denke ich mir, ein wahres Wunder bewirken. Das hat er ja auch immer wieder getan, wie ich zugeben muss, aber sehr oft eben leider nicht.

Beim Nachdenken über Sinn und Zweck des Betens stieß ich auf den norwegischen Schriftsteller Jon Fosse, der sich damit in seiner „Heptalogie“ auseinandersetzt, auf eine ebenso ungewöhnliche wie eindrucksvolle Weise. Fosse, Jahrgang 1959, ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten norwegischen Schriftsteller. Für seine in 40 Sprachen übersetzten Theaterstücke erhielt er 2010 den Ibsen-Preis, der oft als Nobelpreis für das Theater bezeichnet wird. 2013 verließ er die lutherische Staatskirche und konvertierte zum Katholizismus.

Seine „Heptalogie“ umfasst insgesamt drei Bände. Der dritte ist noch nicht übersetzt, der zweite erschien 2022 unter dem Titel „Ich ist ein anderer“. Er bezieht sich auf das berühmte Diktum von Arthur Rimbaud „Je est un autre“. In einem Brief vom 13. Mai 1871 schreibt der siebzehnjährige Dichter an seinen Lehrer Georges Izambard: „Es ist falsch zu sagen: Ich denke: man müßte sagen: Es denkt mich. – Ich ist ein anderer.“ Der Satz klingt hochfahrend und überaus ambitioniert. Er markiert zunächst die Weigerung, sich von der Umwelt definieren zu lassen. Er betont die Autonomie des Subjekts. Der Satz kann aber auch geradezu das Gegenteil bedeuten: Das Subjekt ist nicht autonom, seine Identität ist prekär, wandelbar, schicksalhaften Ereignissen unterworfen. In diesem Sinn versteht sich der Titel von Fosses Roman.

Worum geht es? Der Maler Asle, etwa Ende Fünfzig, lebt an einem norwegischen Fjord und erzählt aus seinem Leben, von seinen Fahrten in die ein gutes Stück entfernte Hafenstadt (vermutlich Bergen), wo er seinen Galeristen besucht und ihm Bilder für die nächste Ausstellung bringt. Der Strom der Erinnerung reißt ihn zurück in die Kindheit und in die Zeit seiner Ausbildung an der Kunstakademie, er führt ihm seine große Liebe vor Augen, den plötzlichen Tod der geliebten Frau und den Absturz in die Trunksucht. In diesem Erzählfluss herrscht nicht die Chronologie, sondern die Gleichzeitigkeit. Alle Lebensphasen sind gegenwärtig. Das „Ich“ verwirklicht sich in verschiedenen Gestalten, die alle Asle heißen. Und doch ist er immer ein anderer: einmal alkoholkrank bis zum Rand des Todes und dann glücklich genesen; einmal der Knabe, der seine erste Zigarette raucht, und dann der einsame Maler, der nur noch seinen Hund hat und seine Bilder und der auf sein Leben zurückblickt.

Jedes Kapitel beginnt damit, dass Asle sein jüngstes Werk betrachtet, „das Bild mit den beiden Strichen, einer ist lila, der andere braun, sie kreuzen sich in der Mitte.“ Er weiß nicht, ob das Bild gelungen, ob es fertig ist, doch handelt es sich um ein Andreaskreuz, so viel steht fest. Dann sitzt er in einem der beiden Sessel und blickt auf den Fjord. Der andere ist für die geliebte Frau reserviert. Sie heißt Ales. Sie ist ein anderes Ich des Malers. Sie ist tot und dennoch anwesend. Er spricht mit ihr, und sie antwortet:

„…weil wir einen gemeinsamen Glauben, ja eine gemeinsame Sprache haben, können wir jetzt miteinander reden und es ist unseren Engeln zu verdanken, dass das geht, sagt Ales, denn eigentlich sind es ihr und mein Engel, die jetzt miteinander reden, und damit es einen Engel gibt, muss man glauben, dass es so ist, und man muss Wörter dafür haben, das Wort Engel, und wenn man nicht glaubt, dass es Gott gibt, ja dann gibt es Gott nicht, weder zu Lebzeiten noch, wenn man tot ist, also ist das Wort Gott notwendig, aber tief innen glauben alle Menschen an Gott, denn Gott ist so nah, dass sie ihn nicht bemerken, und er ist so fern, dass sie ihn auch aus diesem Grund nicht bemerken, und genau so ist es mit dem Engel, mit den Engeln, aber trotzdem sind alle Toten bei Gott, sie sind wieder zu Gott eingegangen, sie wissen nur nicht davon, sagt Ales und ich weiß nicht ganz, ob ich verstehe, was sie sagt, und ich weiß nicht ganz, was ich sagen soll, und dann sage ich, ich vermisse sie und Ales sagt, sie vermisst mich auch, aber auch wenn wir nicht mehr zusammen auf der Erde sichtbar sind, so sind wir trotzdem zusammen unsichtbar und das kann ich sicher spüren, sagt sie und ich sage, das kann ich und sie und ich können sogar miteinander reden, sage ich und Ales sagt, ja das können wir, aber nur, weil unsere Engel da sind und weil ich ihre, Ales’, Worte sage oder denke, nicht sie selbst sagt sie, für sie ist jetzt alles, was es gibt, zu Sprache geworden, denn Gott ist die reine, die heile Sprache, die Sprache ohne Unterschied und Trennung, ja so kann man es auch sagen, sagt Ales und dann sagt sie, nicht mehr lange, und wir werden untrennbar zusammen in Gott sein, wir beide zusammen, wie auf der Erde, aber in Gott, sagt Ales und sie kann mir nicht sagen, wie das geht, denn es ist den Menschen unvorstellbar, sagt Ales und ich sage, ich bin müde und Ales sagt, ich kann ins Bett gehen, ja das soll ich tun, sagt sie und ich sitze in meinem Sessel und ich schaue auf meinen Zielpunkt auf dem Wasser, dort ungefähr mitten in der Sygnesee, auf die Wellen, und Ales’ Stimme verschwindet und ich halte das Kreuz und ich sehe, wie die Wörter mich führen, und ich sage in mir drin Pater noster Qui es in cælis Sanctificetur nomen tuum Adveniat regnum tuum Fiat voluntas tua sicut in cælo et in terra Panem nostrum quotidianum da nobis hodie et dimitte nobis debita nostra sicut et nos dimittimus debitoribus nostris Et ne nos inducas in tentationem sed libera nos a malo und ich nehme die erste Perle von den dreien zwischen dem Kreuz und dem Rosenkranz zwischen Daumen und Zeigefinger und sage innen in mir drin Vater unser Der du bist im Himmel…“

Alle Kapitel der „Heptalogie“ enden mit einem Gebet, und das Gebet geht im Rhythmus des Atems. Die Sätze enden nie mit einem Punkt, sondern gehen nahtlos ineinander über. Wie das Atmen Bedingung der körperlichen Existenz ist, so wird das Beten zur Voraussetzung der seelischen. „…und ich fasse wieder das braune Holzkreuz zwischen Daumen und Zeigefinger und ich halte es fest und dann sage ich, immer und immer wieder in mir drin, während ich tief einatme Herr und während ich langsam ausatme Jesus und während ich tief einatme Christus und während ich langsam ausatme Erbarme dich und während ich tief einatme Über mich…“ Auch Fosses Sprache schreitet im Takt des Atems voran. Sie schwingt sich die psalmodierend empor, um dann wieder zu einem Grundton zurückzukehren, und dies in ständiger Wiederholung, bis der Leser wie von selber mitschwingt.

Es ist ein wunschloses Beten, das der Maler Asle in stetiger Wiederholung einübt. Es erinnert mich daran, dass ich einmal das Glück hatte, eine Woche in einem Benediktinerkloster verbringen und am Leben der Mönche teilnehmen zu dürfen. Im Morgengrauen rief die Glocke zu den Laudes, zum Morgengebet, und schweigend versammelte man sich im Chorgestühl der alten Kirche. Ich konnte sehen, wie der noch junge Mönch eine Stimmgabel aus seinem Gewand hervorholte, sie unhörbar anschlug und an sein Ohr hielt. Dann intonierte er mit seiner schönen Stimme den Psalm 66 „Jauchzt Gott zu, alle Länder der Erde! Spielt zur Ehre seines Namens! Verherrlicht ihn mit Lobpreis!“ Die anderen Mönche, es waren immerhin noch acht, und die Gäste stimmten in den gregorianischen Choral mit ein. Der Gesang klang anfangs etwas schütter, aber dank des strahlenden Vorsängers kam er bald ins richtige Gleis. Was für ein Wunder, dachte ich, dass dieser Lobpreis seit vielen Jahrhunderten in unendlicher Wiederholung gesungen wird, getreu dem Psalm 119: „Siebenmal am Tag singe ich dein Lob, und nachts stehe ich auf, um dich zu preisen.“

In seinem Buch „Herrschaft und Herrlichkeit“ (2010) schreibt der italienische Philosoph Giorgio Agamben: „Die Herrlichkeit, der Lobgesang, die die Geschöpfe Gott schulden, gehen aus Gottes Herrlichkeit hervor, sind nichts als die unvermeidliche Erwiderung, gleichsam das Echo, das Gottes Herrlichkeit in ihnen hervorruft.“ Und ich dachte, als ich im Chor der Mönche mitzusingen versuchte, dass das richtige Beten kein profanes Reden sei, sondern einem Singen oder einem Singsang gleiche, wo der Inhalt in den Lippen- und Stimmbewegungen verschwindet, wie etwa bei einer Litanei oder beim Rosenkranz. Aber ich bin kein guter Beter, und als ich das Kloster verließ, fiel ich in die gewohnte Routine zurück, konnte allerdings endlich ausschlafen.

Im Alltag wird das Beten nie vollkommen wunschlos sein können. Es ist ein Ideal, das an der kleingläubigen Sorge, die uns immer wieder umtreibt, allzu oft scheitert. Und doch könnte das Beten des Malers Asle ein Vorbild sein. Seine Wünsche sind bescheiden und zugleich sehr groß. Er bittet nicht darum, dass seine nächste Ausstellung erfolgreich sein wird oder dass er auf dem weiten Weg zur Stadt die Straßen eisfrei vorfindet. Er bittet um eine Nähe zu Gott, und er tut das ganz für sich allein.

Eine der frühen Erzählungen Kafkas trägt den Titel „Gespräch mit dem Beter“ (1909).

Der Erzähler geht jeden Tag in eine Kirche, aber nicht, weil er fromm wäre, sondern weil er weiß, das dort ein Mädchen, in das er sich verliebt hat, knieend betet. So kann er es in Ruhe betrachten. „Als einmal das Mädchen nicht gekommen war und ich unwillig auf die Betenden blickte, fiel mir ein junger Mensch auf, der sich mit seiner ganzen mageren Gestalt auf den Boden geworfen hatte. Von Zeit zu Zeit packte er mit der ganzen Kraft seines Körpers seinen Schädel und schmetterte ihn seufzend in seine Handflächen, die auf den Steinen auflagen. In der Kirche waren nur einige alte Weiber, die oft ihr eingewickeltes Köpfchen mit seitlicher Neigung drehten, um nach dem Betenden hinzusehn. Diese Aufmerksamkeit schien ihn glücklich zu machen, denn vor jedem seiner frommen Ausbrüche ließ er seine Augen umgehn, ob die zuschauenden Leute zahlreich wären.“ Der Erzähler stellt den Beter zur Rede und sagt zu ihm: „Wie benehmt Ihr Euch doch in der Kirche! Wie ärgerlich ist das und wie unangenehm den Zuschauern! Wie kann man andächtig sein, wenn man Euch anschauen muß.“ Der Beter antwortet: „Ärgert Euch nicht – warum sollt Ihr Euch ärgern über Sachen, die Euch nicht angehören. Ich ärgere mich, wenn ich mich ungeschickt benehme; benimmt sich aber nur ein anderer schlecht, dann freue ich mich. Also ärgert Euch nicht, wenn ich sage, daß es der Zweck meines Lebens ist, von den Leuten angeschaut zu werden.“

Offensichtlich ist der Erzähler ein Voyeur und der Beter ein Exhibitionist. Dieser geht in Kirche, um sich beim Beten sehen zu lassen, jener will gar nicht beten, sondern nur das betende Mädchen anschauen. Von ihr ist nicht weiter die Rede, doch ist sie die einzige Person in der Geschichte, die wirklich betet. Man kann, um die Differenz zu beschreiben, die Termini heranziehen, die David Riesman in seinem Werk „Die einsame Masse“ (1950) entwickelt hat. Der außengeleitete Mensch (other-directed) verhält sich konformistisch und sucht den Beifall, der innengeleitete (inner-directed) folgt seiner Intuition, seinem seelischen Kompass, und er ist so wie Asle froh, wenn er mit Hilfe Gottes im Atem des Gebets zu sich selber findet.

Die Frage des richtigen Betens ist ein häufiges Thema in den Evangelien von Matthäus und Lukas. Jesus zieht sich oftmals zum Beten allein zurück, als würden Beobachter oder Zeugen das Gespräch mit dem Vater behindern. Einmal sagt er: „Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler! Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Du aber, wenn du betest, geh in deine Kammer, schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist!“ (Mt. 6,5)

Jon Fosse hat die Bibel offensichtlich gelesen, er nimmt sie ernst. Religiöse Themen beschäftigen ihn immer wieder. Die erste Erzählung seiner „Trilogie“ (2016) heißt „Schlaflos“ und handelt von einem jungen Paar, das verzweifelt eine Bleibe sucht, denn die Frau steht kurz vor der Niederkunft, sie haben kein Geld, es ist nass und kalt, sie werden überall abgewiesen. („Denn“, so steht es bei Lukas, „sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“) Am Ende heißt es: „…und Asle sieht den kleinen Sigvald mit den Augen blinzeln und ein schwarzer, leuchtender Funken kommt auf ihn zu…“

Der Roman „Morgen und Abend“ (2000) erzählt von der Geburt des kleinen Johannes. Der Vater hat die Hebamme mit dem Boot geholt (wir befinden uns wie fast immer bei Fosse in einem Fjord mit seinen Inseln), und jetzt steht er vor der Tür, folgt unbeholfen den Anweisungen der Hebamme und lauscht verzweifelt den Schreien seiner Frau. Er macht sich seine Gedanken über Gott: „…dass Gott die Welt geschaffen hat und er allmächtig ist und allwissend, wie sie immer sagen, die Gottesfürchtigen, nein daran hat er nie besonders geglaubt, aber dass es Gott gibt, nein keine Frage, denn Gott gibt es ja, aber weit weit weg und ganz ganz nah, denn er ist in jedem einzelnen Menschen…“

Die Geburt gelingt, der kleine Johannes wird groß. Nun macht der Roman einen Sprung und zeigt uns den greisen Johannes, der seinem Ende zugeht. Er stirbt. Sein alter Kumpel Peter, ebenfalls schon ein Geist, holt ihn ab, sie fahren mit dem Kutter aufs Meer hinaus. Johannes will wissen, was ihn erwartet. „Ist es gut, dort zu sein?, fragt Johannes. Es ist weder gut noch schlecht, aber groß und still und es flirrt ein wenig, und hell ist es, aber diese Wörter können nicht viel sagen, sagt Peter.“ Johannes ist beruhigt und dreht sich um: „…weit dort hinten, weit unter sich sieht er Signe stehen, seine liebe Signe…“

Ja, es stimmt, man sollte Fosse lesen.










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