Home - Materialien - Anmerkungen zu Eckhard Nordhofens Vaterunser-Essay


 

Gerd Neuhaus

Der Medienwechsel vom Text zum Fleisch – und zurück zum Text

Anmerkungen zum religionsphilosophischen Konzept Eckhard Nordhofens

Gerd Neuhaus lehrt Fundamentaltheologie an der Universität Bochum

In seinem Beitrag "Auf der Spur des Singulars" unterzieht Eckhard Nordhofen die vierte Vater-unser-Bitte, die dem täglichen Brot gilt, einer so subtilen wie eindrucksvollen textgeschichtlichen Analyse. Deren Entwicklung soll an dieser Stelle nicht wiederholt, wohl aber deren Fazit in kritisch weiterführender Absicht gewürdigt werden. Dieses lautet, die Bitte um das tägliche Brot sei missverstanden, wenn wir ihr die Auffassung unterlegen, schon „Jesus hätte […] daran gedacht, dass wir immer etwas zu beißen haben müssen“. Vielmehr komme es darauf an, Jesus selbst als das himmlische Brot zu begreifen, so dass im Verzehr dieses Leibes sein Geist zu unserem Geist werde. Auf diese Weise würden wir selbst zu Kindern Gottes.

Schon die Zurückweisung der „Sattmacher-Lesart“ ist dringend geboten in einer Zeit, wo sie in einem oberflächlichen Bewusstsein von Ökumene bisweilen auch das eucharistische Bewusstsein von Katholiken unterwandert. Auf der Suche nach einer Abendmahlsgemeinschaft von Katholiken und Protestanten sprechen wir vom eucharistischen Mahl oft so, als ginge es dabei um eine die Konfessionen verbindende Verzehrgemeinschaft. So zitierte die Westdeutsche Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom 14.1.2014 den Kabarettisten Hagen Rether mit dessen Feststellung, dass Katholiken mit den Protestanten „nicht mal die Oblate teilen“. Dementsprechend freute sich dieselbe Zeitung angesichts einer Eucharistiefeier, die der Essener Bischof mit vielen – auch islamischen – Flüchtlingen gefeiert hatte, dass es „Oblaten für alle“ gegeben habe, denn „so viel Ökumene war nie“ (WAZ vom 14.9.2015).

Nun ist für den gläubigen Katholiken das eucharistische Mahl genauso wenig ein gemeinsamer Oblatenverzehr, wie für Liebende die Wirklichkeit eines Kusses sich darauf reduzieren lässt, ein bloßer Schleimhautkontakt zu sein. Gerade hier gilt, was Nordhofen als wortgeschichtlichen Ursprung des Substanzbegriffs kenntlich macht: „Zusammengesetzt aus ‚sub‘ – ‚darunter‘ – und ‚stare‘ – ‚stehen‘, ‚liegen‘ –, bezeichnet ‚substantia‘ das Wesen einer Sache, das unter der sichtbaren, materiellen Oberfläche verborgen war.“ Was der Katholik als Transsubstantiation des eucharistischen Brotes wahrnimmt, ist in diesem Sinne kein „Hokuspokus“, als dessen etymologische Wurzel möglicherweise die Wandlungsworte „hoc est enim corpus meum“ gelten müssen. Transsubstantiation begegnet uns schon auf worthafter Ebene in einer gesprochenen Liebeserklärung. Wenn wir nämlich die Intimität zärtlicher Worte auf ihre physikalische und materielle Gestalt reduzieren, dann wird hier auch nur Atemluft in bestimmte Vibrationszustände versetzt. Die physikalisch-materielle Wirklichkeit eines gesprochenen Wortes ist hier jedoch das Medium für etwas, was mit seiner medialen Ausdrucksgestalt nicht identifiziert werden darf, ihrer aber gleichwohl bedarf. Die Vielfalt derjenigen materiell fassbaren Ausdrucksgestalten, in denen sich menschliche Liebe manifestiert, zeigt dabei, wie sehr Liebe einerseits um einen ihr angemessenen Ausdruck ringt, andererseits aber auf keine ihrer Ausdrucksgestalten reduziert werden darf. So wie nun der Sprechakt vorhandene Atemluft substantiell in die Realität menschlicher Liebe verwandelt, vollziehen die eucharistischen Wandlungsworte die Verwandlung der Oblate in die Präsenz dessen, der uns in Jesus Christus seine unbedingte Liebe geschenkt hat.

Allerdings ist die Analogie zwischen dem eucharistischen Verständnis der Gegenwart Christi und der worthaften Ausdrucksgestalt menschlicher Liebe begrenzt: Kein Mensch käme auf die Idee, die Atemluft, in deren Gestalt sich menschliche Liebe soeben worthaft mitgeteilt hat, gleichsam einzufangen und in einer Art Tabernakel aufzubewahren. Anders verhält es sich, wenn das genannte Ausdrucksmedium nicht in der Atemluft, sondern in der Schrift besteht. Dies wird am – auf andere Weise analogen – Beispiel eines handgeschriebenen Liebesbriefes deutlich. Er besteht in materieller Hinsicht nur aus Papier und Tinte, die jedoch im Akt des Schreibens sich wiederum in die Realisationsgestalt der besagten Liebe verwandelt. Während die gesprochene Liebeserklärung in einem realen Sinne verfliegt und darum immer wieder neu gesagt werden muss, pflegen wir die geschriebene – und erst recht die mit der Hand geschriebene – Liebeserklärung heilig zu halten. Sie will an einem Ort verwahrt werden, der nicht für jedermann zugänglich ist, auf dass sie nimmer wieder neu gelesen werden kann. Wer also in der Eucharistie nur die Oblate sieht, ist demjenigen vergleichbar, der in einem Liebesbrief nur Papier und Tinte erkennt, weil er zu dem Verfasser in keiner Beziehung steht oder gar nie alphabetisiert worden ist.

Freilich ist die Eucharistie von sich aus gegen das genannte materialistisch-physikalische Missverständnis geschützt. Sie hat keinen nennenswerten Nährwert und erfüllt keinerlei Sättigungsfunktion. Soll sie also überhaupt eine substantielle Wirklichkeit besitzen, so kann ihr diese im genannten Sinne nur unter ihrer materiellen Gestalt zukommen. Dies zeigen schon die eucharistischen Einsetzungsworte. Bei den Synoptikern sagt Jesus: „Das ist mein Leib“ (Mk 14,22 parr). Im Johannesevangelium präzisiert er: „Ich bin das Brot des Lebens […]. Wenn jemand davon isst, wird er nicht sterben. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, das ich hingebe für das Leben der Welt“ (Joh 6,48 ff). Nordhofen zitiert diesen ganzen Passus und folgert daraus: „Als seine Zeit abläuft, installiert Jesus das Medium der Inkarnation.“ Die Inkarnation, von der er hier redet, ist freilich nicht mehr die des göttlichen Logos in Jesus Christus, von welcher der Johannesprolog spricht (vgl. Joh 1,14), sondern deren Erneuerung und Vergegenwärtigung, die dort geschieht, wo der Geist Jesu Christi zu unserem Geist wird und sich darin neu verleiblicht.

Nur auf diese Weise tritt dann die vierte Vater-unser-Bitte zu den vorausgegangenen Bitten in ein kohärentes und sie explizierendes Verhältnis. Denn wenn der Geist Jesu zu unserem Geist wird, dann wird der Wille Gottes zu unserem Willen („dein Wille geschehe“), und dort, wo diese Verwandlung des eigenen Willens geschieht, bricht das Gottesreich an („dein Reich komme“).

Spätestens von hier aus wird auch die erste Vater-unser-Bitte verständlich. Denn schon im alltäglichen Umgang mit anderen Menschen wissen wir, dass deren namentliche Anrede die Züge magischer Inbesitznahme gewinnen kann. Dies ist ein Alltagswissen, über das jeder Lehrer verfügt, der in einer Vertretungsstunde bei einer ihm unbekannten Klasse erst einmal einen Sitzplan anfertigen lässt, um durch die namentliche Anrede von Schülern potentielle Unruheherde in den Griff zu bekommen. Dieses alltägliche Beispiel macht bereits deutlich, dass der Missbrauch des Gottesnamens darin bestünde, die namentliche Anrufung Gottes mit dem eigenen Willen aufzuladen, während umgekehrt die Heiligung des göttlichen Namens die Bereitschaft bekundet, selbst zum Medium des göttlichen Willens zu werden.

Damit ist Nordhofen bei dem Kerngedanken angelangt, um den sich seit Jahrzehnten seine religionsphilosophischen Überlegungen drehen. In der biblisch bezeugten Geschichte des religiösen Bewusstseins erkennt er nämlich einen zweifachen „Medienwechsel“ hinsichtlich derjenigen Gestalt, in der sich für Menschen die Macht des Göttlichen manifestiert. Da ist zunächst der Polytheismus, in dem die vielen Götter nur die Vielfalt menschlicher Bedürfnisse spiegeln und wo der Gläubige bemüht ist, durch Opfergaben den jeweiligen Gott seinem Willen zu unterwerfen. Dieser wird jeweils im Kultbild fassbar und ansprechbar.

Demgegenüber vollzieht sich mit der Entstehung des Monotheismus ein religionsgeschichtlicher Quantensprung. Das Göttliche begegnet nun nicht mehr in der Vielfalt der Projektionsgestalten, mit denen sich menschliche Bedürfnisse – in einem ganz wörtlichen Sinne – ein imaginäres Echo verschaffen. Vielmehr begegnet es als das unfassbar Eine und somit als das menschlichen Bedürfnissen gegenüber Andere. Diese Alterität Gottes bedeutet dem Menschen gegenüber keineswegs Gottesferne und Gottesverlassenheit. Denn dieser Gott ist ein personales Wesen, das einerseits unverfügbar bleibt, andererseits aber auch dem Menschen nahe ist. Insofern hat er sich mit dem Tetragramm JHWH einen Namen gegeben, der ihn sowohl ansprechbar macht als auch seine Unverfügbarkeit wahrt. Übersetzt man diesen Gottesnamen, dann kommt dabei eine Namensverweigerung heraus, die selbst die Gestalt eines Namens angenommen hat: „Ich bin der ich bin“; „Ich bin der ich sein werde“. Und die im Dekalog formulierte Aufforderung, den Gottesnamen nicht zu missbrauchen, bedeutet in diesem Zusammenhang das Verbot, sich der Wirklichkeit Gottes im Dienste eigener Interessen zu bemächtigen.

Das Medium einer solchen Gottespräsenz, das in all seiner Gegenwart die Unverfügbarkeit Gottes wahrt, ist nun die Schrift. Während das Kultbild Anwesenheit und Fassbarkeit simuliert und im Betrachter die Versuchung entwickelt, das Darstellende mit dem Darstellenden zu verwechseln, verhält es sich mit dem Medium Schrift anders. Als Zeichensystem ist es ein Medium der Differenz, das weniger als das Bild die Neigung wachruft, das Zeichen mit dem Bezeichneten zu identifizieren. Auch das lässt sich in Alltagssituationen beobachten. Die bildhafte Darstellung einer schmackhaften Speise vermag im Hungrigen eher den Speichelfluss anzuregen als deren worthafte Nennung auf der Speisekarte. Insofern bremst das Medium Schrift das Begehren, mit dem Menschen sich des dargestellten Objekts zu bemächtigen versuchen.

Freilich ist auch das Medium Schrift vor solcher Bemächtigung nicht geschützt. Unter Rückgriff auf eine Formulierung von Sigmund Freud spricht der Ethnologe Klaus Kohl von einer „Wiederkehr des Verdrängten im Verdrängenden“, wenn die mosaischen Gesetzestafeln in der Bundeslade aufbewahrt wurden und diese „als ein mit göttlicher Macht aufgeladener Gegenstand angesehen“ wurde, „dem das Volk biblischer Überlieferung zufolge zahlreiche Siege verdankte“. Darum verweist Nordhofen auch immer wieder auf die schriftkritischen Züge in den Evangelien und der Theologie des Paulus. „Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2 Kor 3,6), schreibt Paulus an die Gemeinde in Korinth. Und kurz zuvor hat er festgestellt: „Unser Empfehlungsschreiben seid ihr; es ist eingeschrieben in unser Herz, und alle Menschen können es lesen und verstehen. Unverkennbar seid ihr ein Brief Christi […], geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln aus Stein, sondern – wie auf Tafeln – in Herzen von Fleisch“ (2 Kor 3,2 f). Auf welche Weise der Buchstabe tötet, sieht Nordhofen im Johannesevangelium aufgezeigt, nämlich in der Perikope von Jesus und der Ehebrecherin (vgl. Joh 7,53–8,11), der er am 21.12.2003 in der FAS eine gründliche Betrachtung gewidmet hat. Während in Religionsunterricht und Predigt in der Regel der Hauptakzent auf der Feststellung Jesu liegt, dass nur derjenige, der ohne Schuld sei, den ersten Stein werfen dürfe (vgl. Joh 8,7), gilt Nordhofens Augenmerk einer Tatsache, die in der neutestamentlichen Exegese wenig Beachtung gefunden hat: Dies ist nämlich die einzige Situation, in der sich Jesus des Mediums Schrift bedient. Er schreibt, und zwar schreibt er mit dem Finger auf die Erde. Wir erfahren zwar nicht, was er schreibt, aber dass er schreibt, ist dem Verfasser des Johannesevangeliums so wichtig, dass er es gleich zweimal erwähnt (vgl. Joh 8,6.8). Nordhofens Vorschlag zur Lösung dieses Problems lautet: Es handelt sich hier um eine vom Evangelisten formulierte „Lehrperformance“, mit der er den Willen Gottes, der für die Schriftgelehrten in der Gestalt des mosaischen Gesetzes in Stein gemeißelt ist, derjenigen Gestalt gegenüberstellt, die er bei Jesus gewinnt. Und diese ist schriftkritisch. Nordhofen vergleicht Jesus, der in den Staub des Tempelbodens schreibt und damit das Medium Schrift „pulverisiert“, mit Mose, der das Kultbild des goldenen Kalbes zu Staub zermahlen lässt (vgl. Ex 32,20). Der Ikonoklasmus, mit dem Mose das goldene Kalb zerstört hat, verwandelt sich bei Jesus dann in einen „Ikonoklasmus der Schrift“.

Auf höchst interessante Weise sieht er diesen Ikonoklasmus in einem Bild des holländischen Malers Pieter Aertsen (ca. 1509–1575) gestaltet, der die genannte Szene vom Tempel auf einen Markt verlegt hat. Wo das Johannesevangelium getreu der genannten Intention uns nicht mitteilt, was Jesus in den Staub des Tempelbodens schreibt, lässt Aertsen ihn auf den Boden das hebräische Alphabet schreiben. Damit löst er das Medium Schrift auf die gleiche Weise in seine kleinsten Bestandteile auf, wie es bei der Zerstäubung des goldenen Kalbes der Fall war.

Insofern erkennt Nordhofen hier in der Geschichte des Monotheismus einen Wechsel des Mediums, in dem Gottes Wille unter uns wohnt: „den heißen Kern der Christologie, den Medienwechsel von der Schrift als Ort Gottes zur Inkarnation. Das Wort ist nicht Schrift, sondern Fleisch geworden (Joh 1,14)“. Damit ist zugleich das Verhältnis des Christentums zum Judentum angesprochen: Derjenige Wille Gottes, der für das Judentum im Medium der Schrift begegnet, hat für das Christentum in Jesus von Nazareth leibhaftig Menschengestalt angenommen. Auch wenn der göttliche Wille in beiden Medien der gleiche ist, macht dies doch einen erheblichen Unterschied. Denn wer den Willen Gottes schwarz auf weiß besitzt, kann die Menschen in solche unterteilen, die sich daran halten, und solche, die dagegen verstoßen.

Die Treue zur schriftlich verbürgten Gestalt des göttlichen Willens droht insbesondere dort in den Sog menschlicher Gewaltbereitschaft zu geraten, wo sie – oft unbemerkt – zur individuellen oder kollektiven Identitätsmarkierung wird. Auch das kennen wir aus alltäglichen Konfliktsituationen: Uns ist etwas heilig, und wir müssen feststellen, dass ein anderer genau das verspottet, was uns heilig ist. Wir fühlen uns dann selber davon angesprochen und beziehen diesen Spott auf uns selbst. Oder es tritt genau der gegenteilige Fall ein, dass wir uns über die Verfolgung eines uns wichtigen Zieles definieren und ein anderer dieses Ziel nicht etwa ablehnt, sondern seinerseits auch verfolgt – womöglich sogar effektiver und erfolgreicher als wir. Dann entsteht eine rivalisierende Gegnerschaft ausgerechnet durch die Verfolgung gemeinsamer Ziele. Damit sind Verhaltensformen gegeben, die in der mimetischen Theorie des französischen Kulturwissenschaftlers René Girard im erstgenannten Fall Gegenspielermimesis, im letztgenannten Aneignungsmimesis heißen. Genau diese Verhaltensformen hat Paulus an sich selbst beobachtet, und sie stellen den Hintergrund seiner genannten Überzeugung dar, dass das Gesetz töte: „Ihr habt doch gehört, wie ich früher als gesetzestreuer Jude gelebt habe, und wisst, wie maßlos ich die Kirche Gottes verfolgte und zu vernichten suchte. In der Treue zum jüdischen Gesetz übertraf ich die meisten Altersgenossen in meinem Volk, und mit größtem Eifer setzte ich mich für die Überlieferungen meiner Väter ein“ (Gal 1,13 f).

Das Gesetz war für Paulus derart heilig, dass einerseits dessen Missachtung durch die Christen ihn zum Christenverfolger machte, andererseits diejenigen jüdischen Altersgenossen, die seinen Eifer teilten, für ihn zu Rivalen wurden. In diesem Sinne spricht er dann auch vom „Fluch des Gesetzes“ (Gal 3,13). Freilich räumt er ein, dass der besagte Fluch nicht etwa dem Gesetz selbst innewohnt, sondern ihm äußerlich durch den Menschen zukommt, der das Gesetz in den Dienst seiner Selbstbehauptung stellt. Darum präzisiert Paulus das missverständliche Wort vom „Fluch des Gesetzes“, indem er einräumt, „dass das Gesetz vom Geist bestimmt ist“ (Röm 7,14), um sogleich hinzuzufügen: „Ich aber bin Fleisch, das heißt: verkauft an die Sünde“ (ebd.). Denn das Gesetz wird „ohnmächtig durch das Fleisch“ (Röm 8,3). So sehr Paulus also von der Gemeinde in Korinth erwartet, dass sie selbst zum leibhaftigen Brief Christ werde und in ihr der Wille Gottes „Fleisch“ werde, so sehr weiß Paulus auch, dass das menschliche Fleisch von der Macht der Sünde überfremdet ist und darum auch den Willen Gottes nur in sündig-gebrochener Gestalt bezeugt.

Soll also der Wille Gottes auf eine Weise Gestalt annehmen, die nicht durch die genannten Mechanismen der Selbstbehauptung entstellt ist, dann muss dies in einem Medium geschehen, dass restlos auf ihn hin transparent ist. Es muss dabei zwischen dem Menschen und dem göttlichen Willen jede Differenz überwunden werden, die Letzteren noch zu einem Gegenstand menschlichen Begehrens machen könnte. Das „Fleisch“ dieses Menschen muss „ohne Sünde“ sein, und in diesem Sinne erkennt Paulus in Jesus denjenigen, „der keine Sünde kannte“ (vgl. Röm 5,21).

Was damit gemeint ist, lässt sich auf analoge Weise begreifen, wenn wir von einem Menschen sagen, er sei „ganz Ohr“. Damit wird ihm nicht die Existenz anderer Körperorgane angesprochen, sondern in einer solchen Situation sind alle Körperfunktionen darauf konzentriert, mit dem Ohr das dem jeweiligen Menschen zugesprochene Wort aufzunehmen. Vergleichbares gilt auch für einen Instrumentalisten, der ganz in sich versunken ist und dabei ein komplettes Orchesterwerk auswendig spielt. Nicht zufällig heißt „auswendig lernen“ auf Englisch „learning bei heart“ und auf Französisch „apprendre par coeur“ – mit dem Herzen lernen. Diese Formulierungen bringen deutlicher als ihr deutsches Äquivalent zum Ausdruck, dass ein Text mit der jeweiligen Persönlichkeit verschmilzt. Freilich setzt solche „Fleischwerdung des Wortes“ eine entsprechende Plastizität des menschlichen Fleisches voraus. Wer nicht als Kind, sondern als Erwachsener mit dem Erlernen eines Instrumentes beginnt, wird es nie zu der beschriebenen Virtuosität bringen, und beileibe bringt auch nicht jedes Kind von seiner genetischen Prägung her die besagte Plastizität mit. Sie muss ihm in einem realen Sinne „in die Wiege gelegt“ sein.

Auch wenn die angeführten Beispiele nur auf analoge Weise zum Ausdruck bringen, was die Fleischwerdung des göttlichen Wortes bedeutet, so machen sie doch den Befund der Evangelien in mehrfacher Hinsicht verständlich: So dürfte als erstes die Bedeutung der Kindheitsgeschichte Jesu deutlich werden, denn die Inkarnation des Logos geschah in dem Kind Jesus von Nazareth. Und dass er „ohne Sünde“ war, setzt in genetischer Hinsicht eine genannte Plastizität des Fleisches voraus, die ihrerseits ein Licht auf seine Herkunft lenkt. So wird auch verständlich, dass Jesus uns als das Kind einer Mutter vorgestellt wird, die auf ihre Weise das „Dein Wille geschehe“ gesprochen hat: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe nach deinem Worte“ (Lk 1,38).

Als zweites wird nachvollziehbar, dass nicht der Gehalt des jüdischen Gesetzes zwischen Jesus und seiner Umgebung strittig ist, sondern die jeweilige Frage, „was das heißt“. „Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ (Mt 9,13; vgl. auch Mk 12,7), fordert Jesus diejenigen auf, mit denen er gemeinsam die Barmherzigkeitsforderung bejaht, die aber in der Befolgung dieses Gebotes ganz und gar nicht barmherzig mit denjenigen umgehen, die diesem Gebot ihrerseits die Gefolgschaft verweigern. Denn hier begegnet ihm genau diejenige Gestalt der Identitätsbildung, die wir zuvor bei Paulus festgestellt und zugleich mit der mimetischen Theorie Girards beschrieben haben: Wer seine eigene Identität über die Verfolgung eines wie auch immer gearteten Zieles ausprägt, droht mit anderen in Konflikt zu geraten, so dass diese entweder zu Rivalen oder zu Gegenspielern werden. Dies kann dann zu der Paradoxie führen, dass im Namen der Barmherzigkeit sehr unbarmherzig verfahren wird – ein Ergebnis, das weder spezifisch biblisch noch spezifisch religiös ist und darum bis in die weltumspannende Brüderlichkeitsmoral des Kommunismus beobachtet werden kann, deren Paradoxie einst mit den Worten karikiert worden ist: „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.“ Dementsprechend wendet sich Jesus an das Gerechtigkeitsbewusstsein derer, „die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren und die anderen verachteten“ (Lk 18,9). Darum ist mit dem Neutestamentler Thomas Söding zu betonen, dass allein die identitätsmarkierende Funktion des jüdischen Gesetzes zwischen Jesus und seiner jüdischen Umgebung strittig ist, nicht das Gesetz selbst.

Drittens ergibt sich daraus ein Verständnis dafür, dass Jesus eine Ablehnung erfährt, die schließlich zu seiner Kreuzigung führt. Denn wer an diejenigen Abgrenzungsmechanismen rührt, welche die menschliche Identität markieren, oder sie gar als Selbsttäuschung und Paradoxie entlarvt, setzt sich der Gefahr aus, die von ihm entlarvten Mechanismen auf sich zu ziehen. Oder um das Gleiche noch einmal im Blick auf die Selbsttäuschung zu formulieren, die wir am Barmherzigkeitsparadox aufgezeigt haben: Wer seine Identität auf eine Lüge baut, kann sie nur auf die Weise aufrecht erhalten, dass er nun denjenigen verleumdet, der diese Lüge entlarvt hat. Beides findet sich in den Evangelien bezeugt: Denn in der Entscheidung, Jesus umzubringen, finden zunächst einmal sehr unterschiedliche Gruppen zu einer Gemeinsamkeit, mit der sie ihre Grenzen überwinden: die Hohenpriester und die Schriftgelehrten (vgl. Mk 11,18; 14,1), die Pharisäer und die Anhänger des Herodes (vgl. Mk 3,6), die Schriftgelehrten und die Pharisäer (vgl. Lk 6,6–11), die Hohenpriester und die Ältesten (vgl. Mt 26,3). Selbst Herodes und Pilatus, die bis dahin Feinde waren, werden darüber zu Freunden (vgl. Lk 23,12). Versteht man also mit Paulus unter der Sünde eine den Anderen herabsetzende Markierung der eigenen Identität, dann können Menschen, die im Sog der Sünde leben, ihre eigene Identität gegenüber dem, der ohne Sünde ist, nur so behaupten, dass sie mit seiner Herabsetzung nun ihm die Last der Sünde auflegen. Und was die Aufdeckung der Lüge über sich selbst betrifft, in der Menschen leben, so mündet sie umgekehrt in die Verleumdung Jesu, wenn „die Hohenpriester und [!] der ganze Hohe Rat […] sich um falsche Zeugenaussagen gegen Jesus“ bemühen, „um ihn zum Tod verurteilen zu können“ (Mt 26,59).

Viertens erschließt gerade das Instrumentalisten-Beispiel, das wir herangezogen haben, einen weiteren Grund für die Ablehnung, die Jesus erfährt. Als jemand, der mit 38 Jahren angefangen hat, ein Musikinstrument zu erlernen, und es heute – nach 25 Jahren – vielleicht so weit gebracht hat wie ein begabtes Kind innerhalb von fünf Jahren, stelle ich gerade im Blick auf die Plastizität der kindlichen Natur bei mir eine unüberwindbare „Trägheit des Fleisches“ fest. Wenn man dann mit seinen Augen am Notentext hängt und in diesem Sinne etwas nachzuspielen versucht, was der Text vorgibt, kann dies genau in dem Sinne zu Quälerei werden, in dem Paulus das Gesetz als Fluch empfunden hat. Wenn man dann erleben muss, wie jemand von innen heraus mit großer Leichtigkeit das zu spielen vermag, was einem selbst zur quälerischen Anstrengung geworden ist, dann kann man bestenfalls neidisch werden und schlimmstenfalls eine solche Begegnung als demütigend empfinden. Wer eine solche kontrastierende Begegnung nicht aushält, dem ginge es in seiner einer Selbstwahrnehmung besser, wenn sie ihm erspart würde. Damit dürfte der Mechanismus benannt sein, den Pilatus dort spürt, wo er weiß, „dass man Jesus nur aus Neid an ihn ausgeliefert hat“ (Mt 27,18).

Der Wille Gottes findet also dort seine angemessene Gestalt, wo er das menschliche Fleisch restlos durchformt, so dass dieses ganz darin aufgeht, Gottesmedium zu sein. Darum fordert Paulus einerseits die Gemeinde in Korinth dazu auf, in diesem Sinne zum Brief Christi zu werden, der nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes geschrieben ist. Allerdings verfasst Paulus dieses Plädoyer für den Brief aus Fleisch in einem Brief, den er seinerseits noch mit Tinte verfasst hat. Seine Forderung verbleibt in dem Medium, das es in Jesus Christus überwunden sieht. Denn Paulus weiß sehr genau, dass das Gottesmedium Fleisch beim Menschen von der Sünde bestimmt ist.

In diesem Sinne überliefert das Johannesevangelium das Jesuswort: „Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch nützt nichts“ (Joh 6,63). Und Jesus fügt hinzu: „Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe, sind Geist und sind Leben“ (ebd.). Hier kündigt sich schon wieder ein rückwärtiger Medienwechsel vom Fleisch zum Wort an, weil offensichtlich nur die Besinnung auf das Wort sicherstellt, dass der Geist der Jünger der Geist Jesu bleibt.

Dafür, dass das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem fleischgewordenen Wort Gottes sich in genau diejenigen Mechanismen der Selbstbehauptung und Verfeindung verstrickt, die in Jesus Christus überwunden sind, enthalten bereits die Evangelien so eindrucksvolle wie bedrückende Beispiele. Dass Jesus „mit Vollmacht“ spricht und „nicht wie die Pharisäer und Schriftgelehrten“ (vgl. Mk 1,122), sichert ihm nämlich eine Gefolgschaft, in der Johannes und Jakobus danach begehren, im Reich Gottes die Ehrenplätze neben Jesus einnehmen zu dürfen, so dass die anderen Jünger „sehr ärgerlich über Johannes und Jakobus“ werden (vgl. Mk 10,41). Weiterhin streiten sich die Jünger, wer von ihnen der Größte sei (vgl. Mk 9,33–37). Darüber hinaus ist Petrus so sehr auf Jesus fixiert, dass er ihn nicht hergeben will und deshalb sogar von ihm als Satan bezeichnet wird (vgl. Mk 8,33). Von der Begründung dieser Bitte fällt wiederum ein entsprechendes Licht auf die dritte Vater-unser-Bitte: „Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen“ (ebd.). So ist es dann auch Petrus, der bei der Gefangennahme Jesu zum Schwert greift (vgl. Joh 18,10).

Wie sehr das Bekenntnis zu demjenigen, dessen ganzes Menschsein darin aufgeht, Medium des göttlichen Willens zu sein, seinerseits nun vom menschlichen Willen zu rivalisierender Selbstbehauptung bestimmt ist, zeigt sich nirgendwo so deutlich wie in der Erzählung vom fremden Wundertäter (vgl. Mk 9,38–41; Lk 9,49–50). Die Jünger sind nämlich auf jemanden getroffen, der im Namen Jesu Wunder tut, und sie haben in der von Lukas überlieferten Variante ihn daran zu hindern versucht, „weil er nicht mit uns zusammen dir nachfolgt“ (Lk 9,49). Bereits diese Begründung zeigt die mimetische Rivalität auf, die sich dort einstellt, wo das menschliche „Fleisch“ nicht restlos vom göttlichen Willen erfüllt ist, sondern von dem menschlichen Willen, im Akt rivalisierender Selbstbehauptung denjenigen nachzuahmen, der seinerseits ganz vom göttlichen Willen erfüllt ist. Die Vorlage des Markusevangeliums geht dagegen noch weiter. Hier wird der Bezug auf Jesus für die Jünger zu einem Akt der Inbesitznahme Jesu, mit dem sie sich gegenüber dem Fremden behaupten. Sie versuchen nämlich den Fremden an seinem Tun zu hindern, „weil er uns [!] nicht nachfolgt“ (Mk 9,38).

Man braucht also gar nicht auf den Verlauf der Kirchengeschichte zu schauen, um zum Begriff einer sündigen Kirche zu gelangen. Dieser Begriff ist bereits dort grundgelegt, wo das Fleisch derer, in denen sich der Geist Jesu von Neuem inkarniert, seinerseits von der Macht der Sünde bestimmt ist. So ist einerseits Eckhard Nordhofen zuzustimmen, wenn er in seinem Beitrag abschließend feststellt: „Inkarnation, Gottes Geist im Menschenfleisch, ist im Prolog des Johannesevangeliums (1,14) angekündigt. Sie gilt nicht nur für Jesus, denn: Allen … gab er Macht, Kinder Gottes zu werden“ (1,12). Im Blick auf die mangelnde Plastizität des menschlichen Fleisches, als die wir dessen sündhafte Prägung begreifen müssen, ist Nordhofen gegenüber aber zu betonen, dass diese der Inkarnation Grenzen setzt. Darum können wir nicht in der Weise Kinder Gottes werden, in der Jesus Sohn Gottes war. So spricht Jesus vom himmlischen Vater auch nicht als „unserem Vater“, sondern als „meinem und eurem Vater“ (vgl. Joh 20,17). Insofern ist keineswegs sichergestellt, dass der Geist Jesu auch unser Geist ist. Dazu bedarf es wiederum des biblischen Wortes. Von hier aus ist dann aber wieder Nordhoden zuzustimmen: Gerade wegen der genannten Prägung des menschlichen Fleisches braucht der Mensch „täglich das überwesentliche himmlische Brot“.

 


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