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Ulrich Greiner

Stalin, die Knalltüte

Milan Kundera: „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“

Stalin, so heißt es in diesem Roman, habe einmal im Kreis der Genossen erzählt, wie er auf Skiern jagen gegangen sei: Er kommt zu einem Baum, auf dem 24 Rebhühner sitzen. Dummerweise hat er nur 12 Patronen. Er schießt, 12 Rebhühner fallen tot herab. Er kehrt nach Hause zurück, holt weitere Patronen, fährt wieder zu dem Baum und erlegt die restlichen Vögel.

Milan Kunderas neues Buch spielt im Paris der Gegenwart. Vier Freunde begegnen einander in diversen Episoden. Als Charles den anderen die Anekdote erzählt und hinzufügt, keiner habe gelacht, alle hätten geschwiegen, nur hinterher auf dem Pissoir über Stalins Lügen gehöhnt, sagt Caliban, es erscheine ihm unglaubhaft, „dass niemand verstanden hat, dass Stalin einen Witz erzählte.“ Charles: „Natürlich nicht. Denn niemand in seiner Umgebung wusste mehr, was ein Witz ist. Und damit kündigte in meinen Augen eine neue große Zeit der Geschichte ihr Kommen an.“

Die Epoche tödlicher Humorlosigkeit hat Kundera am eigenen Leib erlebt. Zweimal wurde er aus der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei ausgeschlossen. In seinem ersten Roman Der Scherz erzählt er die Geschichte des Studenten Ludvik, der sich in eine parteitreue Kommilitonin verliebt. Als sie, anstatt mit ihm in die Ferien zu fahren, an einem Schulungslager teilnimmt, schickt er ihr einen ironischen Gruß und schreibt am Ende: „Es lebe Trotzki!“ Die Post wird kontrolliert, und Ludvik muss sich rechtfertigen. Seine Erklärung, er habe die Geliebte ärgern wollen, es sei bloß ein Scherz gewesen, hilft ihm nichts. Er wird aus der Partei ausgeschlossen, von der Universität verwiesen und in ein Arbeitslager verbannt. Von da an steht sein Leben unter dem Unstern von Hass und Rachedurst.

Der Scherz, vor fast fünfzig Jahren erschienen, ist ein bitteres, ein böses Buch, es ist die realistische, scharfsichtige Abbildung jenes Systems, das von der „samtenen Revolution“ 1989 zum Einsturz gebracht wurde.

Wer nun den zauberhaft heiteren und zugleich tiefsinnigen Roman Das Fest der Bedeutungslosigkeit in die Hand nimmt, kann den literarischen Weg, den Milan Kundera genommen hat, nur bewundern. Die Stalin-Anekdote erinnert an die frühen Verwundungen. Doch jetzt besiegt Kundera die Humorlosigkeit durch Humor und den Gedanken der Abrechnung durch das Lächeln der Weisheit.

Das Motiv der Bedeutungslosigkeit zieht sich wie eine Melodie durch den Reigen der Begegnungen. Es gipfelt in einer Geburtstagsparty, an der die Freunde teilnehmen. Charles, der Mietkoch, und sein Gehilfe Caliban bewirten die Gäste, zu denen auch Alain und Ramon gehören. Wir erleben amourös beflügelte Szenen, kleine Dramen, die sich schon angekündigt haben oder die von hier aus ihren Fortgang finden, wir nehmen teil an belanglosen und doch bezeichnenden Gesprächen. Eine berühmte Pariser Schönheit erscheint, und alle bewundern sie, obgleich ihr Beitrag zu dieser Festivität eigentlich nur darin besteht, dass sie anwesend ist und die von Charles angerichteten Leckereien genussvoll zermalmt.

Und mitten drin schwebt plötzlich eine winzige Flaumfeder durch den Raum. Charles, der sich um seine todkranke Mutter sorgt, hat sie zuerst gesehen, doch nun richtet sich der Blick aller Gäste nach oben. Es passt zu diesem bedeutungslosen Fest, dass die Feder nach einigen Ahs und Ohs auf dem erhobenen Zeigefinger der Pariser Schönheit landet.

Ramon unterdessen ist einer anderen Schönheit, einer früheren Freundin, unverhofft begegnet, und er schließt aus ihrer herzlichen Begrüßung, dass sie einem Rencontre nicht abgeneigt wäre, muss jedoch bemerken, dass sie plötzlich verschwunden ist – um sich, wir später erfahren, mit einem weiteren Helden dieser Mikro-Novellen näher einzulassen. Enttäuscht trinkt Ramon einige Whiskys und sagt zu Caliban (der ein arbeitsloser Schauspieler ist und diesen Spitznamen trägt, weil er in Shakespeares Sturm einmal mitgespielt hat): „Hast du jemals Hegel gelesen? Natürlich nicht. Du weißt nicht mal, wer das ist. In seiner Reflexion über das Komische sagt Hegel, der wahre Humor sei undenkbar ohne die unendliche gute Laune, hör gut zu, was er wörtlich sagt: die unendliche Wohlgemutheit. Nicht der Spott, nicht die Satire, nicht der Sarkasmus. Nur von den Höhen der unendlichen guten Laune kannst du unter dir die ewige Dummheit der Menschen beobachten und darüber lachen.“

Das nun ist eine boshafte und nicht sonderlich gutgelaunte Bemerkung. Ramon stellt sein leeres Glas auf Calibans Tablett und ruft dem fortgehenden Freund nach: „Wie findet man sie, die gute Laune?“

Ja, wie findet man sie? Indem man dieses Buch liest. Es ist verspielt und tiefsinnig, komisch und ernst. Kundera nimmt sich die Freiheit grenzenlosen Fabulierens, er fliegt über ganze Epochen hinweg und lässt Tote wieder auferstehen. Stalin hält seinen Genossen einen Vortrag über Kant und Schopenhauer und haut am Ende mit der Faust auf den Tisch. Im selben Augenblick stürzt Caliban, der in Alains Wohnung auf einen Stuhl gestiegen ist, um eine Flasche vom Schrank zu holen, zu Boden – der Armagnac ist dahin. Im selben Augenblick, am anderen Ende von Paris, erwacht eine schöne Frau (es ist jene, mit der sich Ramon vergnügen wollte) an der Seite ihres Bettgenossen: „Auch sie hatte einen kurzen, lauten Schall gehört, wie der Faustschlag auf einen Tisch.“

Meisterhaft, wie Kundera literarische Konventionen hinter sich lässt, wie er die Motive miteinander verschränkt! Er komponiert einen Kranz kleiner Erzählungen, er unterbricht sie, nimmt sie wieder auf, und wir genießen dieses Wunderwerk wie ein kammermusikalisches Divertimento.

Es beginnt damit, dass Alain an einem sonnigen Tag durch Paris flaniert und die entblößten Bauchnabel der jungen Mädchen bewundert. Was bedeutet es für eine Epoche, so fragt er sich, wenn sich die weibliche Verführungskraft nicht mehr in den Schenkeln oder den Brüsten manifestiert, „sondern in diesem kleinen runden Loch in der Mitte des Körpers“? Später wird sich Alain mit Charles über Engel unterhalte und ihn fragen: „Hat der Engel einen Nabel?“ – „Warum?“ – „Wenn der Engel kein Geschlecht hat, ist er nicht aus dem Bauch einer Frau geboren.“ – „Bestimmt nicht.“ – „Folglich hat er keinen Nabel.“

Am Ende begegnen wir den meisten Helden dieser Geschichte aufs Neue. Während sie durch den Jardin du Luxembourg spazieren, taucht ein seltsamer Mann in einem abgetragenen Parka auf. Er trägt eine Flinte mit sich. „Das schnauzbärtige Gesicht hat etwas Friedliches, was die Atmosphäre mit einem idyllischen Hauch aus vergangenen Zeiten auffrischt.“ Es ist Stalin, der mit seiner Flinte Kalinin verfolgt. Der hat sich eben hinter der Statue von Valentina Visconti, der Herzogin von Orléans, versteckt, um zu pinkeln. Er leidet an ständigem Harndrang und ist das Opfer von Stalins Spott. Die Schreckensgestalten des 20. Jahrhunderts – hier sind sie nur noch komische Knalltüten. Und Kunderas Lebenslauf vom Kommunisten zum Staatsfeind und Emigranten schrumpft auf eine Burleske.

Die Bedeutungslosigkeit zu verstehen, ist nicht leicht. Ramon sagt: „Die Bedeutungslosigkeit ist die Essenz der Existenz. Sie ist überall und immer bei uns. Sie ist sogar dort gegenwärtig, wo niemand sie sehen will: in den Greueln, in den blutigen Kämpfen, im schlimmsten Unglück. Das erfordert oft Mut, sie unter so dramatischen Umständen zu erkennen und bei ihrem Namen zu nennen. Aber es geht nicht nur darum, sie zu erkennen, man muss sie lieben, die Bedeutungslosigkeit, man muss lernen, sie zu lieben.“ Wenn man es gelernt hat, weiß man, wie Hegels „unendliche Wohlgemutheit“ heute zu verstehen wäre.

Es würde bedeuten, an nichts mehr zu glauben. Es wäre der Sieg der Illusionslosigkeit über alle Täuschungen und Enttäuschungen. Dieser Sieg ist Kunderas Ziel. Er hat seinen Preis. Denn in all dem Witz, den dieses unvergleichliche Buch verströmt, liegt eine große Trauer verborgen, die Trauer darüber, dass dieses fürchterliche Jahrhundert (das 20.) kein Ideal übrig gelassen hat – außer der Chance zu überdauern.

Kundera Kunst besteht darin, diese Trauer ins Leichte und Helle zu wenden. Seine Heiterkeit ist die Heiterkeit des Alters. Er wird in Kürze 86. Niemand wird ihn um seine Biografie beneiden, doch scheint es gegenwärtig so, als wären die Gespenster, die er spöttisch verbannt, unheimliche Wiedergänger, die uns abermals heimsuchen.

Milan Kundera: „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“. Roman. Aus dem Französischen v. Uli Aumüller. Hanser Verlag, München 2015; 139 S., 16,90 €


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